24.05.2007 PDF

Wahrheit gibt's nicht - das kann doch wohl nicht wahr sein!

Eine Kritik des universitären Relativismus
Die bürgerlichen Geisteswissenschaften: Zugleich gegen Willkür und Objektivität
Neben der Hoffnung auf eine bessere Berufsperspektive spielt das wissenschaftliche Interesse für manche angehenden Studenten eine Rolle für den Gang an die Uni und für die besondere Fachauswahl. Das, was man in der Schule gelernt oder sich privat angeeignet hat, reicht einem nicht; man will das Wissen vertiefen, hat offene Fragen, denen man ausführlicher nachgehen will. Der eine hat sich schon immer für Geophysik begeistern können und verknüpft mit seinem Studium vielleicht auch die Hoffnung, Menschen bei einem Tsunami durch Frühwarnsysteme helfen zu können. Ebenso der Antifaschist, der sich von dem Studium der Soziologie bessere Antworten auf die Frage erwartet, warum faschistisches Gedankengut einfach nicht aussterben will. Aber auch diejenigen, die eben das Fach nur aus Karrieregründen ausgesucht haben oder schlicht, weil sie in dem Wissensgebiet bisher notentechnisch am besten klar gekommen sind, wissen im Bekanntenkreis auf Nachfrage einiges über den gesellschaftlichen Nutzen des jeweiligen wissenschaftlichen Studiums zu berichten. Wissen zu vertiefen, sich durch ein Studium die Gegenstände zu erklären, halten sie alle für ein wichtiges Mittel, um welche Probleme auch immer zu lösen.
In den Lehrveranstaltungen und den Hausarbeiten wird tatsächlich auch fortgeführt, was in der Oberstufe eingeführt wurde: Ein bloßes "ich finde dies oder jenes blöd" oder "ich find' die CDU/SPD uncool" als Beitrag zu irgendeiner Debatte geht nicht mehr durch. Dies wäre ja nur ein subjektiver oder besonderer Standpunkt und hat in der wissenschaftlichen Diskussion ohne weiteres nichts zu suchen. Man muss also begründen, argumentieren usw.
In den geisteswissenschaftlichen Fächern darf man allerdings mit der Objektivität auch nicht übertreiben. Neben der Auseinandersetzung mit einzelnen Themen und Theorien ist ein Lehrinhalt immer präsent: Der Anspruch, etwas herauszufinden, ist richtig; zu glauben, dass das ginge, ist ein Irrtum.
So gut wie alle Bücher von Professoren und Doktoren, immerhin Wissenschaftler, die ca. fünf Jahre Studium hinter sich und dann rund vier Jahre an einem Thema intensiv gearbeitet haben, betonen in der Einleitung und im Schlussteil, dass alles Wissen auf sehr wackeligen Füßen steht:
In der Einleitung wird ausführlich dargestellt, dass die Zunft sich in den zentralen Begriffen völlig uneinig ist. Dies ist dann aber meist nicht der Auftakt, die sich widersprechenden Ansätze durchzudiskutieren, die falschen ins Kröpfchen und die richtigen ins Töpfchen zu legen. In der Regel entscheidet man sich einfach für eine Begriffsdefinition. „Ich halte mich an den Ansatz von Soundso, weil mir dieser fruchtbarer erscheint“, ist eine übliche Überleitung in einer wissenschaftlichen Arbeit und wird nicht zurückgewiesen mit dem Vorwurf, dass Wissenschaft keine Frage des Beliebens ist.
Im Schlussteil der Arbeit wird betont, dass die erarbeiteten Ergebnisse vorläufiger Natur sind, und prinzipiell ist man aufgefordert, weitere Fragen aufzuwerfen.


Es ist eine Sache, dass einige Gegenstände wirklich schwer zu erklären sind. Weder ist es unnormal, dass man über bestimmte Gegenstände länger als zehn Jahre nachdenken muss, noch ist es unnormal, dass man Hilfe bei anderen Wissenschaftlern beantragt, nach dem Motto: "Ich hab' hier ein Problem, dabei komme ich nicht weiter, jemand anderes vielleicht?" Man kann auch durchaus bei verschiedenen Autoren zugleich gute und mangelhafte Argumente finden. Wenn aber alle Ergebnisse unter Vorbehalt stehen, dann kann man sich zu Recht fragen, was von dem Anliegen, durch ein Studium der Sachen Hilfe zur Lösung von irgendwelchen Problemen zu bekommen, übrig bleibt. Oder banaler gefragt: Was soll das Ganze eigentlich?
Weiter fällt auf, dass dieser Pluralismus von Theorien, die alle prinzipiell unter Vorbehalt stehen, vor allem für die geisteswissenschaftlichen Fächer reserviert ist. Die Lehrbücher der Naturwissenschaften enthalten nicht durchgängig den Hinweis auf die Vorläufigkeit ihrer Ergebnisse. Sicher, auch hier gibt es offene Fragen, mit denen sich Wissenschaftler weiter beschäftigen, aber nicht alle Gesetze der Physik werden mit dem Vorwort "alles ganz schön unsicher" versehen.

Ich weiß, dass ich nichts weiß
In der Wissenschaftstheorie wird die Unmöglichkeit von Wissen noch mal getrennt von den einzelnen Wissenschaften "bewiesen". Die Philosophie "zeigt", dass das Denken nicht hinreicht, um sich Sachen zu erklären. Die Linguistik hat "bewiesen", dass die Sprache eine unvollkommene Sache ist. Wegen der daraus folgenden mangelhaften Kommunikation und des mangelhaften Leseverständnisses könne sich der Mensch keinen objektiven Begriff der besprochenen Gegenstände machen.
Diese "Beweise" enthalten einen fundamentalen Widerspruch, der die ganzen Überlegungen der Wissenschaftstheorie ad absurdum führt: Sie behaupten zu wissen, dass Wissen nicht geht. Und das halten sie für richtig! Auch an der Linguistik ist derselbe Widerspruch vorhanden: Viele Vertreter halten die Sprache für eine reichlich unvollkommene Sache und teilen uns das in Büchern und Reden vom Professorenpult mit. Auch wenn sich die Linguisten in ihren Büchern über die mangelhafte Sprache wechselseitig zitieren, kritisieren und loben, drücken sie in dieser Praxis aus, dass sie davon ausgehen, verstanden zu werden und die anderen verstanden zu haben.
Als Grundsatz an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten gilt: Wissen geht nicht. Wer an der Uni auftritt und sagt, ich habe eine Sache verstanden und kann zeigen, dass die abweichenden Theorien falsch sind, der macht sich bei Dozenten und Mitstudenten ordentlich unbeliebt. Der Dogmatismusvorwurf folgt auf den Fuß und man wird von der weiteren Diskussion ausgeschlossen. Von Wissenschaftlern wird Bescheidenheit verlangt und nur auf dieser Grundlage darf man sich weiterhin mit Verve um offene Fragen streiten.

Man sieht ja, wohin das führt
Die gewünschte Bescheidenheit wird dabei nicht nur wie oben dargestellt in der Abteilung "Erkenntnistheorie" widersprüchlich begründet, sondern auch mit dem Hinweis auf die angeblichen praktischen Konsequenzen eingefordert: So fehlt selten der Hinweis in der Debatte, dass beispielsweise der Marxismus-Leninismus mit seinem Wahrheitsanspruch viele Opfer in seinen realexistierenden Systemen hervorgebracht habe. Linke wie rechte Wissenschaftler versuchen, unter Verweis auf den Realsozialismus zu zeigen, dass der Anspruch, objektives Wissen zu haben, in die Barbarei führe.
Es ist aber eine Sache, über die Wirtschaftsweise in der ehemaligen Sowjetunion, deren Außenpolitik oder den Umgang mit politischen Gegnern inhaltlich zu diskutieren. Diese inhaltliche Diskussion (die es ja neben dem Dogmatismusvorwurf auch mal gibt) wird aber mit der obigen Blamagetechnik einfach übergangen. Kritisiert wird so einfach nur abstrakt, dass die Realsozialisten glatt von den Sachen, die sie gemacht haben, überzeugt waren.
Die Kritik richtet sich auch nicht gegen den "Dialektischen Materialismus" (Diamat), mit dem die Realsozialisten sich eine Weltanschauung zusammengebastelt haben, die für sie vor jeder wissenschaftlichen Diskussion einzunehmen sei. Dass die Geschichte unaufhaltsam zum Sozialismus bzw. Kommunismus drängen würde "ein Resultat der Anwendung des Diamat auf die Geschichte " stand für sie vor jeder weiteren Diskussion fest. Sie haben ein Vorurteil zur Pflicht jeder weiteren Wissenschaft und gesellschaftlichem Diskussion gemacht, was tatsächlich antiwissenschaftlich ist. Das aber ist nicht gemeint, wenn den ehemaligen und heutigen Resten von Marxisten-Leninisten der Dogmatismusvorwurf gemacht wird. Dass sie sich überhaupt sicher waren, was für die UdSSR richtig gewesen sei, das ist den bürgerlichen Kritikern ein Dorn im Auge. So erklären sich die bürgerlichen Kritiker die Gewalt des Sowjetstaates gegen seine Bürger.
Wenn man aber davon ausgehen würde, dass objektives Wissen über den Diskussionsgegenstand die notwendige Voraussetzung für vernünftiges Handeln sei, dann folgte aus dieser Überzeugung gerade kein gewaltsames Vorgehen gegen jene, die über den Gegenstand anders denken. Denn wenn es um das richtige Argument ginge, stünde eine inhaltliche Auseinandersetzung mit abweichenden Urteilen an, nicht ihre gewaltsame Unterdrückung. Mit Gewalt widerlegt man kein Argument.

Die Postmoderne: Skeptizismus als Aufklärung
Zu bestreiten, dass Wissen überhaupt möglich sei, ist eigentümlicherweise gerade in kritischen Wissenschaftskreisen beliebt. Die cultural studies haben gegen die Versuche in der Biologie oder Medizin, mittels spekulativer Analogieschlüsse allerlei soziales Verhalten in der Natur des Menschen zu begründen, einiges einzuwenden. Die mittlerweile wieder salonfähige Idee, Intelligenz habe was mit Rassen zu tun, die angeblich heutzutage mittels Wissens über Gene wissenschaftlich sauber bestimmt werden könnten, halten die Kritiker zu Recht für eine Ideologie. Ihr Angriff auf die Biologisierung von Sozialem bleibt aber nicht dabei stehen, den mit Vorurteilen gespickten Aufbau der Experimente oder ihre weitreichenden fehlerhaften Schlüsse aus dem dürftigen Wissen über Gene zu kritisieren. Ihr "Angriff" auf das falsche Bewusstsein nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auf das in der Gesellschaft überhaupt, ist viel fundamentaler. An den Vorurteilen kritisieren sie nicht die falschen Urteile, sondern behaupten glatt, das Urteilen selber, sich über irgendeine Sache sicher zu sein, sei das zentrale Problem. Es wird "dekonstruiert", was das Zeug hält. Keine Vorstellung hat Bestand, kein Faktum kann als gegeben unterstellt werden. Den Skeptizismus, das prinzipielle Zweifeln an allem, halten sie für ein wissenschaftlich aufklärerisches Programm.(1)
Dagegen ist für diejenigen, die tatsächlich noch was ändern wollen, festzuhalten: Handeln, das nicht auf Wissen beruht, führt bestenfalls zu nichts. Wenn eine größere Brücke gebaut werden soll und kein Wissen von den Gesetzen der Statik vorhanden ist, dann setzen sich die Naturgesetze gegen die Brückenbauer durch - die Brücke bricht zusammen. Gleiches gilt für politisches Handeln. Wer keinen Begriff von Rechtsextremisten hat, die Gedanken von Faschisten gründlich analysiert hat und deswegen um deren gesellschaftliche Grundlagen weiß, wird höchstens Symptome bekämpfen, aber eben keinen Beitrag dazu leisten, den Scheiß aufzuhalten. Und wer gleich meint, dass man politisches Handeln sein lassen sollte von wegen alles ungewiss, der wird weiterhin zugucken müssen, wie Staat und Kapital ihre Zwecke durchsetzen.

Bürgerliche Wissenschaft - bescheiden und entschieden für die Herrschaft
Bei all dem Infragestellen ihrer Ergebnisse schreiben sich die Geisteswissenschaftler in der Regel trotzdem zu, dass sie "näher an der Wahrheit dran sind" als alle anderen, die sich nicht so intensiv mit ihren Gegenständen beschäftigen. Trotzdem machen die gesellschaftlichen Regeln andere, die Politiker. Da fällt schon auf, dass diese Gruppe Menschen gar nicht damit zögert, praktische Konsequenzen aus ihren Überlegungen zu ziehen.
Offenbar gelten für Wissenschaft und Politik zwei unterschiedliche Maßstäbe: Die einen suchen die Wahrheit, ohne sich anzumaßen, Ergebnisse als richtig anzuerkennen und damit Konsequenzen einzufordern. Die anderen handeln und ziehen Konsequenzen, ohne die Wahrheit wissen zu müssen. Wenn ein Kanzler seine Einschätzung der Lage und die daraus folgenden politischen Konsequenzen mit einem "ich meine" einleitet, hat die Meinung auch eine ganz andere Bedeutung. Da gibt jemand, mit exekutiven Vollmachten ausgestattet, allen anderen die neue Linie vor, entlang derer sie ihre Einwände und Wünsche vortragen müssen, wenn sie noch irgendwie berücksichtigt werden wollen - von Bescheidenheit also keine Spur.
Indem man in den Geisteswissenschaften die Praxis des Relativismus pflegt, bejaht man dieses Verhältnis. Für die meisten Wissenschaftler ist dieses Verhältnis auch schlicht der Grund ihres Relativismus. Sie sind bescheiden, weil sie diese Arbeitsteilung der demokratischen Herrschaft gut finden. Die Wissenschaftler schreiben weiter ihre Kritiken und konstruktiven Vorschläge im so genannten Elfenbeinturm getrennt von der Politik oder auf Einladung der Politik in Expertenkommissionen. Die Politik sucht sich dann die wissenschaftlichen "Ergebnisse" heraus, von denen sie glaubt, dass sie den Standort voranbringen. Und so produzieren die Demokratien ihre armen Leute und Kriege, aber das ist ja verzeihlich- schließlich kann auch ein Politiker nicht alles wissen...

In eigener Sache
Jimmy Boyle hat die Wahrheit leider auch nicht gepachtet. Aber das, was in diesem oder anderen Flugblättern zu Uni, Sozialstaat, Lohnarbeit, Krieg usw. steht, halten wir durchaus für richtig. Zumindest hat uns bislang noch keiner einsichtige Gegenargumente vorgelegt. Wenn wir also bei einem Thema auf dem Holzweg sein sollten, hoffen wir natürlich immer darauf, dass irgendjemand uns von ihm abbringt, indem er uns kritisiert. Ansonsten bleiben wir natürlich so unbescheiden und vertreten unsere Positionen und Argumente in der Hoffnung, dass andere auch keine Lust auf Demut, sondern Interesse an der Erklärung und Abschaffung von Armut und sonstigem Elend haben.

Fußnoten
(1) Diese linke Wissenschaftsgeschichte ist ihren Verfechtern durchaus bekannt: Hartmut Winkler referiert in seinem Buch über Diskursökonomie sehr gut die Ausgangsfrage und den Weg der Cultural Studies: 1. Sich wundern, warum das Volk nicht für linke Ideen offen ist. 2. Meinen, dass es an den verfestigten Grundvorstellungen liegt, die den Menschen natürlich erscheinen. 3. Dagegen dann Wissenschafts- und Sprachtheorie betreiben, die zeigen soll, dass jedes Zeichen historischer Natur ist. F.a.M. 2004, S. 210.


Dieser Text wurde im Sommer 2007 im Zusammenhang mit der Unibroschüre "Texte gegen den Wissenschaftsbetrieb" von der Gruppe jimmy boyle veröffentlicht. Du kannst die Broschüre hier als pdf[195kb] herunterladen.