02.04.2014 PDF

Sensationelle Erkenntnisse der Ersten-Weltkriegs-Forschung:

 

Deutsche Großmachtpolitik geht voll in Ordnung!

Deutschland tut sich schwer“ – wenn ein Artikel1 schon so anfängt, dann lässt sich erahnen, was folgen wird. 1. Geht es hier um das Kollektivsubjekt „Deutschland“, und mensch kann eine Wette darauf machen, dass nähere Auskünfte, welche staatliche Institutionen oder wie viele und welche der 80 Millionen Passinhaber_innen hier nun genau gemeint sind, unterbleiben werden. Gemeint ist das „nationale Wir“, und dass es nicht so adressiert wird, hat seinen guten, schlechten Grund darin, dass die Autor/innen zwar irgendwie schon dazugehören, aber nun mal ganz sachlich und von außerhalb ihrem nationalen Kollektiv ein paar Sachen sagen wollen. Dabei auf die eigene Zugehörigkeit und Parteinahme für die eigene Nation hinzuweisen, wäre der pseudosachlichen Attitüde abträglich.  2. Deutschland also, tut und zwar sich schwer, was heißen soll, dass das nationale „wir“ Schwierigkeiten damit hat, so zu handeln, fühlen oder denken, wie das Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan und Thomas Weber erforderlich finden. Mit Fug und Recht darf mensch erwarten, dass dem sich schwertuenden Vaterland und seinen sich mühenden Bewohner_innen die Last, die da auf ihren Schultern oder Herzen liegt, erleichtert wird, und wir es also nicht nur mit nationaler Erleuchtung, sondern auch mit nationaler Erleichterung zu tun bekommen.

Wenn dann ein solcher Artikel nicht von den üblichen Verdächtigen aus Politik und Journaille verfasst wird, sondern von mehr oder minder renommierten Historiker_innen, dann darf mensch sich sicher sein, dass es gleichermaßen historisch wie aktuell zugehen wird. Wohl werden einem die üblichen methodologischen Langweilereien über die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis im Allgemeinen und in Bezug auf die Vergangenheit im Besonderen vorenthalten. Auch auf den Dauerbrenner „historischen Denkens“, nämlich die demütige Selbstbezichtigung, auch nur eine_r von vielen zeitgebundenen Quelleninterpretierer_innen mit einem von vielen möglichen Ansätzen zu sein, wird mensch wohl verzichten müssen. Dafür darf das geneigte Publikum darauf hoffen, ein paar handfeste politische „Lehren“ für heute aus den Ereignissen vergangener Zeiten serviert zu bekommen. Dass diese Sorte Geschichtsbetrachtung immer nur die „Argumente“ herausarbeitet, die zu den angestrebten „Lehren“ auch passen, und alle – zutreffenden oder zusammengesponnenen – Fakten, Zusammenhänge und Interpretationen zur legitimierenden Illustration dieser „Lehren“ herabsinken, ist dabei sachgerecht. Mit Wissenschaft hat das Ganze dann jeweils immer nur insoweit zu tun, als dass die wissenschaftliche Reputation die politischen Forderungen gegen Kritik immunisieren soll. Selten freilich haben Geschichtswissenschaftler_innen in jüngerer Zeit selbst dabei den simpelsten Standards von Wissenschaft Hohn gesprochen, wie im folgenden Beispiel.

Deutschland tut sich schwer mit dem öffentlichen Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs, der sich 2014 zum hundertsten Mal jährt.“ Nanu? Ausgerechnet da soll es ein Problem geben? Schwappt nicht gerade ein Gedenkmarathon über die Öffentlichkeit herein, wird nicht von ARD bis in die letzte Volkshochschule der Erste Weltkrieg unter allen denkbaren Aspekten beleuchtet, besprochen und beglotzt? Und lesen nicht gerade alle, die solche Bücher lesen, Mr. Clarkes „Schlafwandler“, um sich sagen zu lassen dass die Zuständigen im 1. Weltkrieg so recht nicht wussten, was sie taten und auf keinen Fall irgendeiner, außer vielleicht den Serb_innen, irgendeine Schuld an irgend etwas hat2? Wenn vier Historiker/innen ausgerechnet da ein Schwertun sehen wollen, dann sind sie offensichtlich unzufrieden damit, wie der 1. Weltkrieg inhaltlich verhandelt wird. Sie sind nämlich, soviel sei vorab verraten, auf bestimmte politische Konsequenzen scharf, die sie der neueren Forschung zum 1. Weltkrieg ablauschen wollen. Und die vermissen sie in der Öffentlichkeit.

Das liegt nicht nur daran, dass hierzulande die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs alles andere in den Schatten stellt.“

Und weil die Nazi-Zeit solche Schatten wirft, und mensch sich mit solch‘ ollen Kamellen auch nicht mehr aufhalten mag, wird darum im folgenden Text auch ganz konsequent weder von der Nazi-Zeit, noch vom Zweiten Weltkrieg im größeren Maße die Rede sein – auch da nicht, wo es (chrono-)logisch einfach nötig wäre. Mehr als einen pflichtschuldigen Hinweis auf eine „Katastrophe“ wäre auch nicht hilfreich, wo mensch ja gerade behilflich sein will, etwas unverkrampfter vor- und zurückzuschauen. Dass die Nazi-Zeit aber indirekt mit abgehandelt und geschichtspolitisch abgewickelt werden soll, wird sich noch zeigen.

Es hat auch mit der seit den Sechzigerjahren unter deutschen Politikern, in Schulen und Redaktionsstuben verbreiteten Weltsicht zu tun, Deutschland habe nicht nur den zweiten, sondern auch den ersten der beiden Weltkriege angezettelt.“

Immerhin gibt es jetzt ein paar Hinweise, wer dafür verantwortlich sein soll, dass sich alle angeblich so schwer tun. Eine seit den 1960er Jahren verbreitete Weltsicht in Politik, Erziehungssystem und Medien macht den Leuten das Leben so schwer; kurzerhand gesagt, die angelinksten Leute mit ihrer ewigen Nörgelei an Deutschland und seiner Geschichte. Aber nicht nur im Innern gibt es Miesmacher_innen, sondern auch draußen:

Bei manchen unserer europäischen Nachbarn verdichtet sich das heute zu dem Diktum, mit seiner Euro-Politik drohe Deutschland den Kontinent ein drittes Mal zu ruinieren“.

Was sich da zu einem „Diktum“ verdichtet, und wie das betreute und geförderte Massenelend in Südwest- und Südosteuropa eigentlich mit der Frage, ob Deutschland nun ein- oder zweimal einen Weltkrieg „angezettelt“ hat, zusammenhängt, darauf wird allerdings nicht weiter eingegangen. Vermutlich weil die Autor/innen das „Diktum“ für so völlig absurd halten, dass es ihnen nicht weiter nötig erscheint. Vielmehr soll es nahelegen, dass jene seit den 1960er Jahren verbreitete Weltsicht Munition für die Böswilligkeit des Auslands ist und dabei behilflich ist, das deutsche Ansehen in den Dreck zu ziehen. Und das finden die Autor/innen wirklich nicht gut.

Das ist nicht nur historisch falsch, es ist auch politisch gefährlich. Neuere historische Forschungen zu Ursachen und Verlauf des Krieges widersprechen der Vorstellung, wonach das Deutsche Reich durch sein Weltmachtstreben Großbritannien provoziert habe und in seiner Machtgier mit vereinten Kräften gestoppt werden musste. Diese Sicht aber liegt jenem Europakonzept zugrunde, demzufolge Deutschland supranational "eingebunden" werden müsse, damit es nicht erneut Unheil stifte.“

Hoppla, das geht aber flott. „Jenes Europakonzept“, was mag es wohl sein? Historisch müsste es der Versailler Vertrag sein, der ja bekanntlich nach dem 1. Weltkrieg die Machtverhältnisse festzurrte und im Rahmen des Völkerbundes die imperialistische Konkurrenz ordnete. Nur: Das kann gar nicht gemeint sein, weil von einer „supranationalen Einbindung“ des Deutschen Reichs damals weit und breit nichts zu sehen war, und selbst die zaghaften Avancen Frankreichs , doch mal zusammen gegen die USA was zu starten (Briand-Initiative von 1930 zur Gründung eines europäischen Staatenbundes mit gemeinsamem Markt), an der beinharten Revisionspolitik der Weimarer Republik abgeprallt sind. Die „Einbindung“, wenn mensch sie denn so ansprechen will, kam erst nach dem zweiten Weltkrieg. Da startete bekanntlich der westdeutsche Teilstaat mit seinen westlichen Nachbarn ein europäisches Einigungsprojekt . Dass es wenige Jahre nach der totalen Niederlage Deutschlands 1945 bei einigen westlichen Nachbarn größere Sorgen gab, Deutschland könne erneut Unheil stiften, hatte freilich seine Gründe. Nämlich, dass die USA Westdeutschland zum Alliierten gegen die Sowjetunion aufrüstete und seinen ehemaligen westlichen Kriegsgegnern als Verbündeten aufnötigte. Was das alles mit dem ersten Weltkrieg zu tun haben soll, müssen sich die Leser_innen irgendwie selber zusammenreimen oder mit dem Befund „Deutschland wurde schwer unrecht getan“ zufrieden sein. Wo es um die ganz großen Linien geht, ist chronologischer Kleinscheiß wirklich egal; ob die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl nun 1925 oder 1952 gegründet wurde – was sind 30 Jahre unter Freund_innen? Gegenüber dem schönen Vorwurf, die Alliierten und ihre deutschen „Helfershelfer_innen“ hätten nach dem zweiten Weltkrieg ganz falsche Lehren aus dem ersten gezogen, verblasst derartige historische Beckmesserei.

Die Vorstellung von der friedensstiftenden Wirkung der europäischen Einigung, insofern sie das Nationale überwindet, wie sie besonders in Deutschland verbreitet ist, beruht jedoch unserer Meinung nach auf falschen Prämissen. Wir glauben, dass es in der besten liberalen Tradition unserer westlichen Partner steht, den falschen Gegensatz Europa vs. Nationalstaatlichkeit zu überwinden.“

Hier muss mensch den Autor/innen vorbehaltlos zustimmen: Die Vorstellung, die europäische Einigung sei für den Friedenserhalt da und überwinde „das Nationale“, beruht auf falschen Prämissen. Denn ganz klar ist die Kooperation der westeuropäischen Staaten gegen den Ostblock nicht gemacht worden, damit es „Frieden“ gibt, sondern um den kalten Krieg (auch in seinen heißeren Phasen) effektiver zu führen und zu gewinnen; und als dieser Gemeinschaftsgrund wegfiel, da wollten die europäischen Staaten damit gemeinsam erreichen, wozu sie alleine zu schwach waren, nämlich eine Weltmachtposition neben den USA. Womit auch klar wäre, dass die europäische Einigung niemals und zu keinem Zeitpunkt „das Nationale überwinden“ wollte und es auch überhaupt keinen Gegensatz zwischen Europa und Nationalstaatlichkeit gibt. Die europäischen Staaten haben ihre Konkurrenz vielmehr miteinander supranational organisiert und institutionalisiert, um jeder für sich Vorteile aus der Sache zu ziehen, die sie alleine eben nicht erzielen könnten, und bewerten und bekritteln die EU aus dieser Perspektive. Dass dabei Deutschland mittlerweile sagt, wo’s langgeht, und Großbritannien mitteilt, was nicht geht, und alle anderen sich dazu kalkulierend verhalten müssen, weil Europa für sie „alternativlos“ ist, sorgt für Zündstoff und Pickelhauben und Hitler-Schnurrbärten auf Protestplakaten gegen die deutsche Politik. Für Frieden sorgt die ganze Chose insoweit, als dass die Mitglieder der EU ihre Konflikte miteinander friedlich austragen, und nur nach außen gemeinsam oder alleine Kriege führen.

Aber halt, so haben die Autor/innen es gar nicht gemeint. Ihnen ist ein angelinkster Europa-Idealismus ein Dorn im Auge, der das Märchen, Europa sei für den Frieden da und irgendwie das Ende des Nationalismus, tatsächlich ernst nimmt. Dessen Anhänger_innen und dem Rest der Staatenwelt teilen sie nun mit, dass die angebliche friedenserhaltende und nationalismusüberwindende Konsequenz aus dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich nicht mit den Forschungsergebnissen über den Ersten Weltkrieg decken, und sie sich darum den deutschen Nationalstaat nicht länger madig machen lassen wollen.
Wer anderes will, folgt nicht nur veralteten Thesen und hat falsche Prämissen, sondern versündigt sich auch noch an den besten, liberalen Tradition „unserer westlichen Partner“. Das kann keine_r wollen, und wer es doch will, ist vermutlich Kommunist_in. Alle anderen möchten bitte einsehen, dass ein deutschnationales Ja zur deutscher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft inklusive eines starken deutschen Staat statt dieses Europa-Wischi-Waschi angesagt ist, weil die anderen das schließlich auch machen und dürfen.

Längst hat sich in der Geschichtswissenschaft ein Paradigmenwechsel vollzogen, den neuerdings Christopher Clark ("Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog") und Herfried Münkler ("Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918") zusammengefasst haben. Zahlreiche Detailstudien lassen schon seit einigen Jahren die Großmächtebeziehungen vor 1914 in anderem Licht erscheinen.

Stefan Schmidt über Frankreich, Andreas Rose über England, Sean McMeekin über Russland, Günther Kronenbitter über Österreich-Ungarn und Konrad Canis über das Deutsche Reich – sie alle haben überkommene Sichtweisen auf die Julikrise und den Beginn des Ersten Weltkriegs revidiert und ein vielschichtigeres Bild an deren Stelle gesetzt.“

Ob diese Studien wirklich hergeben, was die Autor/innen in sie hineinlesen wollen, ist dabei schon fast egal. Es geht ja jetzt nicht wirklich darum, sich die Staatenkonkurrenz der damaligen Zeit anzuschauen – also z.B. zu fragen, wie das Verhältnis von Dominanz des adligen Grundeigentums im Staatsapparat zu einer schon nationalstaatlich-kapitalistischen Politik war oder warum die Staaten damals exklusive Ausbeutungszonen (Kolonien) haben wollten oder wie sich die Existenz einer millionenstarken sozialistischen Arbeiter_innenbewegung auf die Außenpolitik ausgewirkt hat oder dergleichen. Deswegen spielt die angeblich festgestellte „Vielschichtigkeit“ in der weiteren Argumentation auch keine Geige mehr, sondern es geht recht einschichtig und einseitig weiter, freilich erst nachdem mensch ungeliebte und unerwünschte Geschichtsinterpretationen mit einem Verweis auf die „Vielschichtigkeit“ als einseitig zurückgewiesen hat.

Fritz Fischers These vom zielstrebigen deutschen Griff nach der Weltmacht hat sich als überspitzt und einseitig erwiesen. Von einem "deutschen Sonderweg" kann heute ebenso wenig mehr die Rede sein wie vom "preußischen Militarismus" als Ursache allen Übels. Die lange Zeit gängige Deutung der Außenpolitik des Deutschen Reiches als Inbegriff diplomatischer Grobschlächtigkeit, deplazierter Krafthuberei, aggressiven Expansionsstrebens und permanenten Versagens ist längst relativiert. Historiker blicken nicht mehr nur nach Berlin, um die Ursachen des großen Krieges zu erklären, sondern verstärkt auch wieder nach Paris und Wien, nach St. Petersburg und London.“

Wenn etwas „überspitzt“ und „einseitig“ ist, dann ist eigentlich etwas dran an der Sache, aber sie wurde verengt und weitere Gesichtspunkte müssen einbezogen werden, um ein richtiges Gesamtbild zu bekommen. So ist das aber hier nicht gemeint. „Überspitzt“ und „einseitig“ steht hier eigentlich für ‚völlig falsch‘. Wenn etwas „relativiert“ wird, dann wird es ins Verhältnis zu etwas anderem gesetzt – was nur klappen kann, wenn mensch über die Sache auch was weiß. Das wäre hier aber gar nicht sachdienlich. Darum weisen Neitzel & Co dem toten Fischers Fritz auch nicht irgendeinen Fehler nach, gehen auch nicht auf eins seiner Argumente ein, entkräften auch nicht eine von den vielen Quellen, die er herangezogen hat, ja machen sich nicht mal die Mühe, seine Argumentation halbwegs sauber zu referieren. Sondern sie versuchen, zwei unterschiedliche Standpunkte („zielstrebiger Griff“ / „permanentes Versagen“), die nicht nur nichts miteinander zu tun haben, sondern eigentlich nicht mal gut zusammenpassen – was Leute nicht daran gehindert hat, beide zu vertreten - , in einem Abwasch zu erledigen. Das tun sie, indem sie – einfach mal woanders hinsehen. „Die anderen haben ja auch“ soll der Grund sein, warum es keinen zielstrebigen deutschen Griff nach der Weltmacht gegeben haben soll. Und die Logik muss mensch erstmal fressen. Denn ob das Deutsche Reich planvoll einen Krieg vorbereitet hat, von dessen Unvermeidlichkeit nicht wenige überzeugt waren, ob es nach dem Attentat von Sarajewo Österreich-Ungarn gedrängelt hat, einen Krieg mit Serbien anzufangen, ob es damit die Hoffnung verbunden hat, dass Russland und Frankreich sich aus ihren Kalkulationen heraus entweder raushalten, und an Prestige und Einfluss verlieren oder einmischen und dann durch einen kurzen, schnellen Krieg niedergerungen und Europa, Asien und Afrika neu geordnet werden - das hat ja mit der Frage, ob Österreich-Ungarn, Italien, Frankreich, Russland, Großbritannien und die USA nicht auch alle so ihre nationalen Berechnungen und Kriegspläne hatte, nicht sehr viel zu tun.

Dass die anderen auch gerne hätten und dann auch auf den deutschen Antrag, die Machtverhältnisse zwischeneinander kriegsmäßig zu klären, eingestiegen sind, reicht dem deutschnationalen Kleeblatt glatt für eine wesentlich freundlichere Sicht auf das vergangene Deutschland. Das Kaiserreich hatte ja zwischendurch eine schlechte Presse in der Bundesrepublik, wo mensch mit Genörgel über die Unprofessionalität der Außenpolitik von Wilhelm II. und seinen Kanzlern und den persönlichen Macken dieser Leute dem Volk klar machen wollte, dass es da in der zweiten deutschen Republik doch deutlich professioneller, ergebnisorientierter und erfolgreicher zugeht. Solches Schlechtmachen verflossener Obrigkeiten hat die Bundesrepublik im 65. Jahr ihrer Existenz und 25 Jahre nach dem Fall der Mauer nun wirklich nicht mehr nötig, und darum sehen die Autor/innen das Gekrittel an Willem Zwo & Co. auch nicht mehr als Kompliment für die diplomatischen Leistungen der Genschers, Fischers und Steinmeiers, sondern verbitten sich das als sehr einseitiges, deutschfeindliches und schuldbeladenes Gerede. So ändern sich die Zeiten.

Beseelt von ihrem festen Willen, sich ihre gute Meinung über Deutschland und seine Politik auf keinen Fall trüben zu lassen, kommen sie auch nicht auf eine ziemlich naheliegende Interpretation der damaligen deutschen Außenpolitik, die zudem noch den Vorteil hätte, stichhaltig und quellengestützt zu sein: Dass nämlich die „diplomatischer Grobschlächtigkeit“ Ausdruck der Überzeugung war, auf die Interessen anderer Mächte keine Rücksicht nehmen zu müssen, aber von allen anderen Respekt für die eigenen Interessen einfordern zu können. Dass die „deplazierte Krafthuberei“ in Wirklichkeit zum verfolgten Zweck ziemlich gut passende Machtdemonstrationen waren, die von den anderen Mächten auch entsprechend ernst genommen und mittels Gewaltdrohung und diplomatischer Nachverhandlung in bloß symbolische Punktsiege zu verwandeln versucht wurden. Dass darum aggressives Expansionsstreben angesichts des kontinuierlichen Ausbaus der Machtmittel und der beharrlichen Ausweitung und brutalen Behauptung des eigenen Kolonialbesitzes eine ziemliche unangemessen-freundliche Charakterisierung dieser Politik ist, die eben nicht nur „strebte“, sondern machte. Und dass schließlich das angebliche „permanente Versagen“ gar keine sachliche Feststellung über Aufwand, Umsetzung und Ertrag der deutschen Außenpolitik vor 1914 für die von ihr verfolgten Zwecke ist, sondern das – nachträglich übrigens leicht zu habende - Urteil, dass die führenden Figuren des Kaiserreichs die Machtverhältnisse falsch eingeschätzt und darum zum Schluss den Krieg verloren haben; verwandelt in das abfällige Werturteil „Versager!“. Aber weil es „einen zielstrebigen deutschen Griff nach der Weltmacht“ nicht gegeben haben darf – obwohl Reden wie Taten der deutschen Staatsführung da eigentlich wenig Zweifel aufkommen lassen – bleiben solche Interpretationen schön außen vor. Es gibt ja auch soviel anderes worüber sich reden ließe. ­

Die Schuldfrage, in deutscher Selbstbezogenheit lange Zeit der zentrale Begriff, ob als Skandalon oder als Selbstbezichtigung, spielt dabei keine entscheidende Rolle mehr.

Den weltmännischen Hinweis auf die angebliche deutsche Selbstbezogenheit, die in der Thematisierung der deutschen Politik als eine der wesentlichen Ursachen des Krieges läge, muss mensch nicht weiter ernst nehmen. Denn die Frage, wie der europäische Hegemon Deutschland auf seine zwei früheren Anläufe zur Weltmacht blickt, wird auch im Rest Europas durchaus mit Interesse beobachtet. Das haben die Autor/innen übrigens selber auch schon geschrieben und schreiben es später auch noch mal, also Pustekuchen mit der deutschen Selbstbezogenheit. Und das wird nicht der letzte immanente Widerspruch dieses Textes sein. Der Grund, warum sich die Staaten wechselseitig beobachten, wie sie die Geschichte beurteilen, liegt darin, dass Staatsführungen mit ihren Geschichtsinterpretationen nach Innen, wie nach Außen, mitteilen, was sie sich für Rechte rausnehmen wollen und sagen, was anderen Staaten deshalb nicht zusteht. Um diese nationale Selbstvergewisserung für aktuelle politische Projekte und deren diplomatische Ansage nach Außen, dreht sich ja auch zentral der ganze Artikel der vier Historiker/innen.

Das Deutsche Reich war nicht "schuld" am Ersten Weltkrieg. Eine derartige Kategorie gab es bis dahin gar nicht, hatten doch dem Codex der europäischen Staatenkriege gemäß souveräne Staaten das "ius ad bellum", sofern sie eine Verletzung ihrer Interessen begründen konnten.“

Nun ist die Moralisierung der Frage, wann Staaten mit der Kriegsdrohung, die die Grundlage aller Diplomatie ist, ernst machen, sicher nicht besonders hilfreich, um zu verstehen, wann und warum ein Staat Land und Leute dazu benutzt, massenhaft Ausländer umzubringen, um einem anderen Staat seinen Willen aufzuzwingen. Aber der Schluss, nur weil in einem ominösen „Codex der europäischen Staatenkriege“ irgendetwas nicht erwähnt worden sei, habe es eine bestimmte Kategorie nicht gegeben, ist ja doch ein bisschen frech. Selbstverständlich ist auch schon in früheren Zeiten die Schuldfrage moralisch gewälzt worden, und haben alle kriegführenden Mächte sich immer nur zu ihrem äußersten Bedauern von ihren Gegnern gezwungen gesehen, mal richtig auf die Pauke zu hauen. Die Lektüre einschlägiger Kriegserklärungen mag hier weiterhelfen – aber dazu müsste mensch überhaupt Lust haben, sich wirklich mit den Fakten zu beschäftigen.

Dieses Recht zum Krieg galt 1914 am wenigsten für Großbritannien, denn das Vereinigte Königreich konnte mit keinem unmittelbaren Interesse oder Bündniszwang ein Eingreifen in einen lokalen Konflikt (zwischen Österreich-Ungarn und Serbien) begründen. Erst der britische Kriegseintritt aber machte aus dem Ursprungskonflikt ein globales Desaster.“

Das Recht zum Kriege hatten und haben die Staaten nicht daher, dass es da irgendeinen Codex gab oder gibt – sondern, weil sie als Gewaltmonopolisten nach innen sich dieses „Recht“ zur Gewaltausübung nach außen in Anspruch nahmen und nehmen. Entsprechend blödsinnig ist es nachträglich, Großbritannien dieses „Recht“ abzusprechen; dies ist keine rechtliche, sondern in Wirklichkeit eine moralische Beurteilung; und zwar von Leuten, die – wie wir noch sehen werden – sich über das üblich moralinsaure Gequatsche über Krieg und Frieden turmhoch erhaben fühlen. Aber die vier Weltenrichter/innen, die mal eben feststellen, dass eigentlich Großbritannien schuld daran hat, dass der 1. Weltkrieg zum „globalen Desaster“ geworden ist, auch wenn sie das so nicht sagen, brauchen für ihre Argumentation beträchtlichen Mut zur Lücke. Erstens war eigentlich bei jedem Konflikt nach 1900 klar, dass egal wie lokal er angefangen hat, er ziemlich schnell global werden könnte. Es gab genug Nationen, inklusive Deutschland, die bereits die ganze Welt als Material für ihr Projekt, nationalen kapitalistischen Reichtum steigern, real ins Auge gefasst hatten. Dann betrifft eben jeder Regionalkonflikt auch diese anspruchsvollen Nationen. Zweitens aber erklärte Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg nachdem deutsche Truppen in Belgien einmarschierten. Und ob mensch das nun als Anlass, Vorwand oder Grund sehen will: Um einen „lokalen Konflikt (zwischen Österreich-Ungarn und Serbien)“ hat es sich zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich nicht mehr gehandelt. Aber geh‘, wer wird da pingelig sein, Benelux oder Balkan, Belgrad oder Brüssel – fängt ja alles irgendwie mit B an, und was sind tausend Kilometer unter Feind_innen? Drittens aber muss man die werten Historiker_innen wirklich fragen, ob sie allen Ernstes der damaligen Weltmacht Nr. 1 Großbritannien nachträglich vorhalten wollen, dass sie nicht brav zugeschaut hat, wie die Weltmacht Nr. 3 Deutsches Reich die beiden Verbündeten Frankreich und Russland abräumt und in Zukunft Europa und Teile Afrikas und Asiens unter seine Kontrolle kriegt?

Letztlich wiederholen die Autor/innen hier nur die enttäuschten Hoffnungen der deutschen Diplomatie und Kriegsplanungen als Anklage, Großbritannien hätte sich gefälligst raushalten sollen. Mensch sieht: „Gott strafe England“, wie mensch sich damals erbittert über die Einmischung der „Vettern jenseits der Nordsee“ grüßte, ist als grummelnder Unterton deutscher Geschichtsschreibung nach wie vor zu haben. Ein guter Nationalist hat eben ein gutes Gedächtnis für die Verfehlungen der „Feinde“ und vergibt auch nicht so schnell.

Worum nun ging es in diesem Krieg? Um Demokratie und Freiheit, um "Zivilisation" gegen "Kultur", um einen Kampf der Werte und Ideologien, wie die Propagandisten bald verkündeten? Viele der in den Massenheeren aufmarschierenden Männer waren durchaus bereit, ihre Heimat zu verteidigen, konnten aber mit dem Krieg der Ideen nicht viel anfangen. Die propagandistische Verzerrung des Gegners zur blutrünstigen Bestie widerstrebte ihnen. Im Kriegserlebnis entstand oftmals eine Gemeinsamkeit über die Schützengräben hinweg.“

Jetzt darf der einfache Landser sprechen. Dem war das propagandistische Gerede oftmals wurscht, weil er als Nationalist wusste, dass die Feinde nun mal bekämpft werden müssen, wenn die Regierung das sagt. Ja, und zu Weihnachten haben dann die Überlebenden auch mal Schützengraben-übergreifend zusammen gefeiert, solange Pause vom Morden war, und sich hinterher weiter umgebracht. Auskünfte worum es in diesem „heilinger Verteilungskrieg“ (Karl Kraus3) genau ging, ist diesem herzerwärmenden Frontgemälde freilich genau sowenig zu entnehmen, wie der jeweiligen Kriegspropaganda.

Auch der völkerrechtswidrige Durchmarsch durch Belgien mit den ihn begleitenden Grausamkeiten machte das wilhelminische Deutschland nicht zum Oberschurken und "Barbaren". In den englischen und französischen Kriegsstrategien war Belgien ebenso wenig tabu gewesen. Die Verletzung der Souveränität Belgiens war nicht der Grund, sondern der willkommene Vorwand für das britische Eingreifen.“

Kommen wir also doch noch zu Belgien. Wie üblich sind die Planungen der anderen Beleg dafür, dass die Taten des Deutschen Reichs nicht so schlimm gewesen sein können, und nur wegen ein paar „begleitender Grausamkeiten“ wollen wir hier doch niemanden zum „Barbaren“ erklären. Und weil Großbritannien kein Recht auf Teilnahme am 1. Weltkrieg haben soll, darf der Anlass für seinen Kriegseintritt auf keinen Fall ein Grund, sondern muss ein Vorwand gewesen sein. Irgendwelche Belege werden sich in den „detailreichen Studien“ schon finden. Dass die Souveränität Belgiens Großbritannien nur insoweit interessierte, wie das seine Interessen betraf, wird schon so gewesen sein; dass es daran aber gar kein Interesse hatte, ist ganz einfach falsch.

Sind also alle geradezu schlafwandlerisch in die Katastrophe hineingeschlittert?“

Muss man sich rhetorische Fragen stellen oder hat schon mal jemand einen Vorwände erfindenden Schlafwandler getroffen?

Das auch wieder nicht.“

Warum die Abkehr vom guten Mr. Clark an dieser Stelle? Dessen Bestseller entnehmen die Autor/innen nur, das Deutschland keine Schuld am Krieg hatte. Der Rest aber ist für sie recht ungenießbar. Zum einen kann mensch – bei allem, was an diesem oberflächlichen, im schlechten Sinne des Wortes parteiischen, ankedotenlastigen und z.T. ganz schön spekulativen Buch sonst zu kritisieren ist – auch beim schlechtesten Willen keine Unbedenklichkeitserklärung für Nationalismus und eine Absage an ein supranational organisiertes Europa ablauschen; eher sogar das ziemliche Gegenteil. Zum zweiten will sich das Quartett mit so einem drittklassigen Freispruch – alle waren irgendwie überfordert, die Kommunikation klappte nicht und viele Missverständnisse und persönliche Animositäten verhinderten eine friedliche Lösung – nicht zufrieden geben. Also:

Die politischen Führungseliten hatten durchaus Interessen an einem militärischen Konflikt, die sich nicht aus hohen moralischen Standards, sondern aus handfester Machtpolitik speisten. So kämpfte Russland nicht in erster Linie für das Selbstbestimmungsrecht der slawischen Brudervölker, sondern für eigene expansive Ziele in Osteuropa und am Bosporus. Frankreich war nicht passives Opfer deutscher Aggression, sondern durchaus selbst zu einem Waffengang bereit, sofern es Russland und möglichst auch England an seiner Seite wusste. Englands außenpolitische Elite um Sir Edward Grey erscheint im Lichte neuerer Forschungen weniger friedfertig und auf Ausgleich bedacht als vielfach angenommen. Österreich-Ungarn war nicht das willenlose Objekt sinistrer Kriegstreiber in Berlin.“

Alles Heuchler diese Russen, Franzosen, Engländer, die verfolgten gar keine höheren Ziele! Und Österreich-Ungarn hat auch Schuld, obwohl sie das so nie nennen würden, weil sie ja „realpolitisch“ argumentieren wollen! Nichts als Interessen, die sich aus handfester Machtpolitik speisten, hatten die alle, obwohl die Angabe von Frankreichs und Großbritanniens Interessen etwas vage bleibt. Naja, aber dafür kommen skandalöse Enthüllungen: „Englands außenpolitische Elite“ war, das muss mensch auch mal sagen dürfen, „weniger friedfertig und auf Ausgleich bedacht als vielfach angenommen“ . Dass das eigentlich heißt, dass sie aber doch irgendwie „friedfertig“ und „auf Ausgleich bedacht“ gewesen sein müsste, wenn sie es „weniger“ gewesen sein soll, als vielfach angenommen wird – also bitte was sollen denn solche Sprachlogeleien, wo es um Höheres geht! Mit langweiligen Überlegungen, dass die Einmischung in einen kontinentaleuropäischer Krieg, mit der ganzen absehbaren Vernichtung von Reichtum und Machtmitteln und den ganzen unabsehbaren Folgen, für die damalige Weltmacht Nr. 1 einfach nicht sonderlich attraktiv und darum nicht das Mittel erster Wahl war, ohne dass „Englands außenpolitische Elite“ diese Option deswegen ausschließen hätten wollen: Mit sowas kriegt mensch die Briten ja nie vom hohen Ross runter.

Die deutsche Führung schließlich“, geht es weiter. Ujujujuj, jetzt wird es spannend: Mal kucken was die für Interessen hatte, die sich aus handfester Machtpolitik speisten:

Die deutsche Führung schließlich verfolgte, getrieben von Abstiegsängsten und Einkreisungssorgen, das defensive Ziel, jene prekäre Situation einer begrenzten Hegemonie auf dem europäischen Kontinent wieder zu errichten, die das Reich unter Bismarck besessen hatte, weit entfernt davon, übermütig und größenwahnsinnig nach der Weltmacht zu greifen.“

Haben wir was verpasst oder ausgelassen? Interessen? Handfeste Machtpolitik? Von wegen: Voller „Ängste“ und „Sorgen“, waren die armen Entscheidungsträger in Berlin, sicherlich im Gegensatz zu ihren Amtskollegen anderswo. Deswegen verfolgte das Deutsche Reich auch bloß ein „defensives“ Ziel, gerade mal die Wiedererrichtung einer „prekären“, weil nur „begrenzten“ Hegemonie, gegen die, weil es sie schon mal gab und sie ja auch nur begrenzt gewesen wäre, nun wirklich niemand Einwände erheben kann! Es ist nicht leicht so ein deutsches Politikerleben, vor allem wenn man von lauter böswilligen und heuchlerischen Machtpolitiker_innen eingekreist worden ist, die einen zwingen, Millionen von Landsleuten für ein rein defensives Ziel in den Tod zu schicken. Da blutet einem doch auch nachträglich das Herz. Sätze wie „Wir wollen auch einen Platz an der Sonne“, „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ „Peking muss rasiert werden“ und so lustige Pläne wie das Septemberprogramm des Reichskanzlers Bethmann-Holweg, das recht großzügige Änderungen der europäischen Landkarte vorsah, die vierjährige Weigerung, über einen „Verständigungsfrieden“ auch nur zu reden und der Friedensvertrag von Brest-Litowsk, wo das Deutsche Reich der jungen Sowjetmacht fast ganz Osteuropa abknöpfte, sind selbstverständlich alle rein defensiv gemeint gewesen und weit entfernt von „Übermut“ und „Größenwahn“. Aber das versteht außerhalb Deutschland wieder keiner!

In gewisser Weise sind Nationalist_innen wie Neitzel, Geppert & Co dann auch wieder bewundernswert: Wie mensch es hinkriegt, mit Argusaugen jedwede moralische Heuchelei anderer Nationen zu erspähen und genussvoll zu zerpflücken – und mit welcher ideologischen Verbohrtheit mensch gleichzeitig nur die besten Absichten bei der eigenen Nation sieht: Chapeau, vor solch intellektueller Selbstzurichtung.

Aus der Distanz von nunmehr fast hundert Jahren erscheint die Schulddebatte ein wenig wie die Fortführung jener kriegsüblichen Propaganda, der das Deutsche Reich damals kaum etwas entgegenzusetzen wusste, das sich in der Rolle des "Barbaren", der belgische Frauen und Kinder schändete, vorgeführt sah.“

Nicht wahr, die Kriegspropaganda der anderen Mächte war verlogen und gemein. Die deutsche hingegen – ja, über die erfahren wir komischerweise nichts, außer dass das Deutsche Reich den bösen Feinden kaum etwas entgegenzusetzen wusste. Das stimmt zwar kein bisschen, aber in dem schönen Bild vom besorgt-ängstlich-defensiv-prekären Deutschland sollte ‚unschuldig angegriffen‘ und ‚wehrlos‘ nicht fehlen. Hätten die Autor/innen früher gelebt, sie hätten als Plakatmaler für die Weimarer Republik und ihren Kampf gegen Versailles gute Dienste leisten können. Eine genaue Erklärung was denn die früher erwähnten „begleitenden Grausamkeiten“ gewesen waren, und welchen realen Kern (und welche Übertreibungen) die Vorwürfe der „Schändung“ belgischer Frauen und Kinder beinhalteten, würde natürlich zu weit führen. Und auch gar nicht zum Beweiszweck passen, dass Deutschland gar nicht so schlimm war, die anderen Mächte allerdings ziemlich schlimme Finger gewesen sind, weswegen an einer deutschen Großmachtpolitik damals wie heute überhaupt nichts auszusetzen ist.

Der Erste Weltkrieg ist der Beginn vieler Schrecken, einer von ihnen ist die Moralisierung des Krieges. Dass man diesen Krieg habe führen müssen, um jeglichem Krieg ein Ende zu machen oder, wie der amerikanische Präsident Wilson proklamierte, die Welt sicher für die Demokratie zu machen, dass es sich also im Krieg gegen das Deutsche Reich um einen "gerechten Krieg" gehandelt habe, erweist sich heute als der Versuch, ein Massenschlachten, das mindestens elf Millionen Soldaten das Leben kostete, zu rechtfertigen – also als Sinngebung des Sinnlosen. In Wirklichkeit beseitigten der große Krieg und der Friedensschluss, der ihm folgte, kein einziges Problem. Sie hinterließen im Gegenteil viele neue Konflikte, die uns, etwa im Nahen Osten, noch heute beschäftigen.“

Na endlich mal eine Kritik am Krieg, die sich gewaschen hat: Millionen sterben, ohne Probleme zu lösen, darum ist das ganze Gerede der Kriegsgegner Deutschlands nur Sinngebung des Sinnlosen. Vermute hier keine_r eine Absage an Kriege überhaupt: Gegen ein zünftiges Massenschlachten haben die Autor/innen offensichtlich keine Einwände, wenn es einen „Sinn“ hat – nämlich irgendwelche „Probleme“ zu lösen. Im Gegenteil: Der ganze Artikel läuft auf ein Plädoyer für mehr, aber anders und offenherziger begründete Kriege hinaus.

Denn mal ehrlich: Wenn die Moralisierung des Krieges einer der Schrecken war, dann kann’s mit der Schrecklichkeit der anderen Schrecken nicht so weit her sein, vor allem wo die Soldaten dann auch über die Schützengräben Gemeinsamkeiten entwickelt haben.

Der enorme Erfolg des Buchs von Christopher Clark ist ein Hinweis darauf, dass die zeitliche Distanz ein neues, weniger von Emotionen und Ideologien genährtes Interesse ermöglicht. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Das Ende des Kalten Krieges hat den Blickwinkel ebenso verändert wie das Heraufziehen eines stärker multipolar ausgerichteten und global dimensionierten Staatensystems mit unverkennbaren strukturellen Ähnlichkeiten zur Welt vor 1914. Das Gut-gegen-Böse-Schema des Ost-West-Konflikts gilt nicht mehr. Die Welt ist komplizierter und konfliktträchtiger geworden, wie wir nicht zuletzt im Bürgerkrieg in Jugoslawien in den 90er-Jahren gesehen haben. Uns scheint, dass diese Veränderung in Politik und Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist. Sie fordert aber mehr denn je die realpolitische, nicht die moralische Antwort auf das Weltgeschehen.“

Genau! Deutschland ist nicht mehr Teil eines Blocks, sondern selber eine Macht; dadurch ist die Welt ziemlich multipolar und einfache Gut-Böse-Schema sind da gar nicht im nationalen Interesse. Und statt irgendwelchen idealistischen Gewäschs über Frieden, Demokratie und Menschenrechte, muss mensch die gute alte Realpolitik ausgraben, die sich die Mühe nicht macht, die nationalen Interessen noch lange mit irgendwelchen übernationalen Idealen auszustaffieren, weil ihr der nationale Erfolg das höchste denkbare Ideal ist.

Damit das geht, lege mensch sich gefälligst nur die Emotionen und Ideologien zu, die der schwarz-rot-goldenen Viererbande in ihren deutschnationalen Kram passen. Dass es an denen in Politik und Öffentlichkeit ihres Erachtens noch fehlt, ärgert die Autor/innen dann aber schon.

Die multipolare Welt von heute mag an 1914 erinnern. Die Analyse der Julikrise aber lehrt uns, dass es heute wie damals keine zwingende Notwendigkeit für eine globale Katastrophe gibt.“

Eben, eben: Hätte Großbritannien sich rausgehalten und die anderen Deutschland mal machen lassen, wäre das ja alles nicht passiert. Die Lehre sollten sich alle mal einleuchten lassen, weil sie wegen der Ähnlichkeit von 1914 mit 2014 irgendwie ganz schön aktuell sein könnte. Gut, dass das ein paar deutsche Historiker/innen mal klarstellen.

An dieser Stelle darf aber auch gestaunt werden: Haben uns unsere Geschichtslehrer/innen nicht immer davor gewarnt, mit so veralteten Konzepten wie „Imperialismus“ und „Kapitalismus“ die ganz andere Welt von heute zu analysieren? Und dann kommen die vier Autor/innen und sagen, es sei schon recht, die heutige Zeit mit der Zeit des „Hochimperialismus“, wie das Schulgeschichtsbuch sowas nennt, zu vergleichen? Mensch darf sich da nicht täuschen, irgendeine Untersuchung, ob die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Staatenkonkurrenz damals und heute aus dem gleichen Zweck, nämlich nationaler Reichtumsproduktion und der dafür nötigen/eingesetzten gewaltsamen staatlichen Interessendurchsetzung, und unterschiedlichen Umständen (Währungspolitik, Rolle der Landwirtschaft, Produktivkraftentwicklung, Auflösung von Bourgeoisie und Adel in Kapital und Grundeigentum) herrühren, sind von den Vieren gewiss nicht zu haben. Vielmehr ist der Feldherrnhügel, den die Autor/innen erklimmen, so hoch, dass alle Frontverläufe gleich aussehen. „Mehr als zwei“ – das soll die Gemeinsamkeit zwischen 1914 und 2014 sein.

Die neuen historischen Erkenntnisse gefallen einigen nicht, weil sie im Widerspruch zu lieb gewonnenen Selbst- und Feindbildern stehen. In England und Frankreich würden viele gern an der Schwarz-Weiß-Version eines "gerechten Krieges" festhalten, in dem Liberalismus gegen Militarismus, Demokratie gegen Autokratie und nationale Selbstbestimmung gegen Fremdherrschaft standen.“

Und das lassen sich die Vier nicht länger gefallen, wo sie ja gerade nachgewiesen haben, dass interessengeleitete Machtmenschen der Entente ganz schön gemein zu den defensiv sorgengeplagten, dafür aber doch recht maßvollen, weil nur eine begrenzte und prekäre Hegemonie wiederherstellen wollenden deutschen Politikern waren. Die „beste liberale Tradition unserer westlichen Partner“ ist in Zukunft gefälligst kein Argument mehr für eine kritische Betrachtung deutscher Großmachtpolitik früher und heute, sondern ein Argument dafür. Da muss mensch auch erstmal drauf kommen.

Umgekehrt haben wir uns in Deutschland einen negativen Exzeptionalismus angewöhnt: das Gefühl, heute besonders gut dazustehen, weil wir in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders schlecht gewesen seien.“

Und daran stört die Autor/innen gewisslich nicht der Exzeptionalismus, denn das Deutschland außerordentlich großartig, friedliebend und maßvoll gewesen ist, finden sie ja selbst. Auch dass irgendjemand findet, dass Deutschland heute besonders gut dasteht, wird die Autor/innen nicht ärgern; schon eher, wenn jemand seine_ihre Begeisterung für Deutschland genau aus dem zieht, was sie der deutschen Öffentlichkeit gerade abgewöhnen wollen. Was sie nämlich nicht mehr haben wollen, ist die Abgrenzung gegenüber der vorherigen Geschichte. Selbst nachträgliche Selbstkritik ist eben für gute Nationalist_innen nicht das richtige, kraftvolle Ja zu Volk und Vaterland, das sie einzig angemessen finden.

Manch einem behagen daher die Deutungen der Julikrise nicht, die zwar den deutschen Beitrag nicht leugnen, ihn jedoch in angemessene Proportionen setzen.“

Selbstverständlich, warum sollte das Quartett den deutschen Beitrag „leugnen“ wollen: Nach ihren Ausführungen bestand er ja gerade aus lauter gut begründete Sorgen und Ängste, die in ein maßvolles, keineswegs größenwahnsinniges Programm mündeten. Die „angemessene Proportion“, in die mensch das zu setzen hat, ist ja wohl dann die, dass das arme Deutschland wegen der Machtpolitik der Anderen oder gar völlig grundlos in einen Krieg verstrickt wurde. Allerdings werden die Autor/innen sich bei ihrem offensiven Abstrakt-Bekenntnis, mensch habe gar nicht vor, irgendetwas zu leugnen, noch was anderes gedacht haben. Sie legen damit von vornherein Einspruch gegen entsprechende Vorwürfe von linker Seite ein, und das gleichermaßen argument- wie substanzlos. Wem das alles nicht behagt, der ist ein „Nestbeschmutzer“, aber weil mensch sowas heutzutage so nicht mehr formuliert, klingt’s ein bisschen netter.

Schuldstolz aber steht uns genauso wenig zu wie ein triumphierender Freispruch“.

Also für das, was „uns“ zusteht, da sind die vier auf jeden Fall zuständig. Und weil ihr Freispruch alles andere als triumphierend ist – immerhin haben sich „unsere westlichen Partner“ in Form der EU an ihren eigenen „besten liberalen Traditionen“ versündigt, und das nachdem sie Europa in einen Krieg gestürzt haben, den sie dann auch noch moralisiert und zur Sinnstiftung missbraucht haben: Haben die ein Glück, dass „wir“ nicht nachtragend sind! müssen sich die ganzen deutschen Kompliziert-Nationalist_innen mit ihrem Hitler-Komplex und ihrem Grundgesetz-Stolz, von den glorreichen Vier erklären lassen, dass ihnen ihre Befangenheit gegenüber der deutschen Geschichte nicht zusteht. Und wehe einer nimmt sich in Zukunft noch mal heraus, Kritik an irgendwas zu üben. Dem wird dann Schuldstolz attestiert.

Die deutsche Selbstbezogenheit ist kontraproduktiv. Denn vor allem macht die gegenwärtige Krise klar, dass ein Europa scheitert, das auf historischen Fiktionen beruht. Falsche Lehren aus der Vergangenheit könnten sich als fatal für das europäische Projekt erweisen.“

So hat mensch die Euro-Krisen und die wechselseitige Unzufriedenheit der europäischen Mächte mit ihren Konkurrenz- und Kooperationsresultaten noch nicht gesehen. EZB, Krisenkonkurrenz, Finanzmärkte, Staatsverschuldung – alles Schmu. 1. Weltkrieg und falsche Lehren! Aber was sind die richtigen Lehren?

Pazifismus und die Überwindung des Nationalstaates sind nicht die einzig denkbaren Schlussfolgerungen aus den Weltkriegen.“

Übersetzt heißt der Satz:

“Pazifismus und die Überwindung des Nationalstaates sind völlig undenkbare Schlussfolgerungen aus den Weltkriegen, weil wir von beidem nichts halten, sondern für ein großes starkes Deutschland sind, das endlich auch mal Kriege so führen darf., wie die Gewinner von Weltkrieg I und II. Das sind wir unserer nämlich eigentlich glorreichen Geschichte schuldig und das ganze linke Gesindel, das das anders sieht, soll sich gefälligst verpissen“.

Aber so formuliert mensch heute nicht mal mehr in der Springerpresse. Fällt irgendwem übrigens der Plural auf? Plötzlich ist von „den Weltkriegen“ die Rede, das heißt offensichtlich hat das massive Wilhelm II-Whitewashing in den Augen der Autor/innen auch die braunen Flecken auf der deutschen Weste gleich mitentfernt.

Das Angebot der Quadriga, sich darüber zu streiten, ob Pazifismus oder die Überwindung des Nationalstaates nur keine, eine oder die einzig denkbare Schlussfolgerung aus den Weltkriegen sei, sollte mensch rundherum ablehnen. Als ob es zur Ablehnung von Krieg erstmal ein paar millionenschwere Gemetzel nötig wären, und der Nationalstaat erst durch Volksgemeinschaft, Shoah und Vernichtungskrieg diskreditiert worden wäre - und sich vorher und unterhalb dessen keine Einwände finden lassen würden gegen die staatliche Zusammenfassung von Menschen zu einem „Volk“ und ihre mörderischen und brutalen zivilen und militärischen Konsequenzen.

Dass Pazifismus übrigens keine gelungene Schlussfolgerung aus irgendetwas ist, sei nur angemerkt. Den herrschenden Frieden mit seinen gegensätzlichen Interessen für irgendwie in Ordnung, die kriegerische Austragung dieser Interessenkonflikte hingegen unnötig und falsch zu finden, ist kein Beitrag dazu, Kriege abzuschaffen – und lauter nationale Gewaltmonpolisten zur internationalen Gewaltlosigkeit aufzurufen, hat, je nach Umständen, dann auch etwas Tragisches oder Komisches.

Was mensch die Autor/innen schon gar nicht mehr fragen mag, ist, wo Pazifismus denn jemals prominent politisch eine Rolle gespielt hätten – sieht mensch mal von den ganz frühen Anfangsjahren der Bundesrepublik ab. Oder zählt die Haltung der verflossenen schwarz-gelben Koalition, sich nicht auf Kriege einzulassen, bei denen Deutschland nicht richtig mitbestimmen darf, schon als Pazifismus? Aber vielleicht verwechseln die Autor/innen auch die 62% der Deutschen, die gegen eine stärkere militärische Beteiligung an Auslandseinsätzen sind (SZ v. 1./2.02.2014), mit Pazifist_innen? Denn davon muss mensch leider ausgehen: Dass die lieben Landsleute mehrheitlich die menschenrechtliche Begründung so ernst nehmen, dass sie nicht einsehen, deutsches Geld und deutsche Soldaten für irgendwelche Ausländer/innen und ihre Menschenrechte auszugeben, genau wie die Autor/innen das letztlich auch sehen. Aber wer sich einen Stahlhelm aufsetzt, leidet da natürlich unter Sichteinschränkungen.

Anders sieht es mit der „Überwindung der Nationalstaaten“ aus. Das wäre ja mal was! Leider meinen die Autor/innen damit die supranationale Machtzusammenballung der europäischen Nationalstaaten, die ganz vieles ist, aber keine Überwindung der Nationalstaaten darstellt. Darum lohnt es sich auch nicht, darauf weiter einzugehen.

Denn weder sind die alten Ängste vor deutscher Hegemonie verschwunden, noch hat die Moralisierung außenpolitischen Handelns seit 1990 zu einer größeren Integration der Bundesrepublik in die europäische Staatengemeinschaft geführt.“

Nicht zu lange über das „denn“ rätseln. Zwischen den beiden Sätzen besteht nicht die logische Verbindung, die das „denn“ nahelegt – also das hier allen Ernstes ein Argument gebracht würde, warum Pazifismus und Überwindung des Nationalstaates nicht die einzig denkbaren Schlussfolgerungen aus den Weltkriegen (gewesen) sind. Nicht mal dann übrigens wenn Pazifismus oder Überwindung des Nationalstaates irgendwie handlungsleitende Ideale der deutschen Politik gewesen wären – was sie, wie gesagt, mitnichten waren. Ob Ängste vor deutscher Hegemonie denn irgendeinen Grund in der Sache haben könnten, ist dem schwarz-rot-goldenen Kleeblatt nicht mal eine Überlegung wert. Denn Leute wie diese Figuren sind gleichermaßen für eine solche Hegemonie, wie sie alle Ängste davor als absurd antideutsche Phantasien geißeln. Und auch das Gerede von „der größeren Integration“ in „die europäische Staatengemeinschaft“ sollte mensch jetzt nicht auf die Goldwaage legen. Es ist gar nicht so, dass die Autor/innen da ernstlich für wären, sondern sie wollen nur ihren zusammenphantasierten linksliberalen Kontrahent/innen vorrechnen, dass sie ihre angeblich erstrebten Ziele nicht erreichen konnten und dem leicht beleidigten deutschen Nationalgefühl recht geben, „wir“ seien ja nun wirklich die besten Europäer_innen wo gibt, würden dafür aber gar nicht recht geliebt. Und das nur, weil Deutschland sagt, wo’s langgeht, und dass Massenarmut bedeutet.

Im Gegenteil: Einen Menschenrechtsinterventionismus, der sich nicht an nationale Interessen bindet, versteht außerhalb Deutschlands kein Mensch.“

Moment, Moment: Also jenes Ausland, in dem viele an der Idee eines "gerechten Krieges" festhalten wollen , „in dem Liberalismus gegen Militarismus, Demokratie gegen Autokratie und nationale Selbstbestimmung gegen Fremdherrschaft“ standen – ausgerechnet da sollen Leute Verständnisprobleme bei einem „Menschenrechtsinterventionismus, der sich nicht an nationale Interessen bindet“ haben? Offensichtlich waren die Autor/innen zu verliebt in den deutschnationalen Dauerbrenner „Das wäre im Ausland nicht möglich“ – den schon im Kaiserreich Reichskanzler Bülow benutzt, um die Sozialdemokrat_innen für ihren angeblich fehlenden Patriotismus auszuschimpfen – um sich über die innere Konsistenz ihrer Argumentation Gedanken zu machen. Und müssten die Autor/innen sich nicht mal entscheiden, ob das Ausland nun aus lauter verstockten und unbelehrbaren Idioten besteht, die von „uns“ an ihre „beste liberale Tradition“ erinnert werden müssen oder die moralische Richtschnur liefern soll, wie’s in Deutschland laufen soll? Und zusätzlich mal ein Argument liefern, das irgendwie plausibel macht, dass selbst wenn es wahr wäre, dass der Rest der Welt aus lauter nationalistischen Saftsäcken besteht, dies einen guten Grund abgäbe, dies nachzuahmen?

Aber was haben die Autor/innen eigentlich gegen einen „Menschenrechtsinterventionismus“ pur? Haben die am Ende was gegen Menschenrechte? Gemach, irgendeine Kritik an den heiligsten Prinzipien bürgerlich-kapitalistischer Staatlichkeit, die ihr Dasein damit tief in die Menschennatur verlegt, ist hier nicht zu erwarten. Auch gegen die grundsätzliche Infragestellung der Souveränität eines Staates über Land und Leute, wenn ihm Verletzung der Menschenrechte vorgeworfen wird, werden die vier schon nichts haben. Selbst der instrumentelle Einsatz des Vorwurfs, der sich einen Dreck um Folter, Mord, Vergewaltigungen, Hungerblockaden an sich schert, sondern diese zum Anlass nimmt, wenn aus anderen Gründen die Staatsgewalt mißliebig ist, ist nicht der Grund der Kritik. Im Gegenteil, genau das ist ja ein „Menschenrechtsinterventionismus“, der sich „an nationale Interessen bindet“, wie die Autor/innen ihn gerne hätten. So wird es von Deutschland und den anderen auch die ganze Zeit gemacht. Dass kein Staat wegen Menschenrechten einen Krieg anfängt, sondern dass die Anklage Menschenrechtsverletzung dann fällig wird, wo einem Staat mangelnde Botmäßigkeit gegenüber der kapitalistischen Weltordnung nachgewiesen werden soll, kann jede_r wissen, der_die’s wissen will.

Was die Auto/innen vermutlich an der Berufung auf Menschenrechte stört, ist, dass die Politik öfters behauptet, sie sei ja nun geradezu verpflichtet, einzuschreiten, wenn ein Staat sich so aufführe. Manchmal tragen auch Bündnispartner ihre Forderung zum Mitmachen als moralische Verpflichtung vor. Diese – rhetorische – Berufung auf einen – angeblichen, in Wirklichkeit höchstens selbst geschaffenen – „Zwang“ empfinden die vier vermutlich als eine Einschränkung der Handlungsoptionen des deutschen Staates; auch wenn sie das keineswegs ist.

Auch will keiner unserer Nachbarn in einem übernationalen großen Ganzen aufgehen, solche Pläne nähren vielmehr die Angst vor alten Machtansprüchen.“

Muss mensch diesen Unsinn noch kommentieren? Als ob im Ausländermaut-Keine Sozialunion-Roma nach Rumnänien-Deutschland irgendjemand dafür plädieren würde, in einem „übernationalen großen Ganzen“ aufzugehen. Hier ist ein Pappkamerad aufgebaut, auf den nun kräftig losgedroschen wird.

Die Idee, dass wir mit "Europa" den Nationalismus bekämpfen müssten, der angeblich die Triebfeder des Dreißigjährigen Krieges des 20. Jahrhunderts gewesen sei, hat den Nationalstaat zu Unrecht diskreditiert.“

Wenn das mal wahr wäre! Aber interessant ist schon, wie die Autor/innen die Welt sehen wollen. Mit dem politischen Bildungsgeschwätz „Patriotismus gut/ Nationalismus schlecht“ geben sie sich gar nicht mehr ab, sondern stellen der Vaterlandsliebe in all ihren Formen einen ziemlich umfangreichen Persilschein aus. Dass all ihre „Argumente“ vorher gar keine Hinweise enthalten, wie das nun mit dem Nationalismus als „Triebfeder“ aussieht, stört diese Leute nicht. Ihnen geht es nämlich gar nicht um „den Nationalismus“, sondern um den deutschen Nationalismus, auch nicht um „den Nationalstaat“, sondern um den deutschen Nationalstaat. Nun müsste mensch lange suchen, um irgendwelche Anhaltspunkte zu finden, in Deutschland sei der Nationalismus nennenswert mit oder ohne Europa bekämpft worden und der Nationalstaat sei irgendwo zu Recht oder zu Unrecht so diskreditiert, wie sich das alle vernünftigen Menschen wünschen würden. Umfragen in der deutschen Bevölkerung belegen regelmäßig das genaue Gegenteil, und auch den Politikerreden und -handlungen lässt sich ziemlich klar der gegenteilige Befund entnehmen. Die selbstkritische Anklage, die Deutschen seien nicht nationalistisch genug, gehört hingegen zum Inventar des deutschen Nationalismus von Arndt über Wilhelm II und Hitler bis hin zu den Gepperts, Neitzels, Stephans und Webers unserer Tage. Auskünfte über die Realität enthielt dieser Vorwurf nie, zu entnehmen aber ist ihm, an welch hohen Ideal einer einheitlichen und von keinem Zweifel und keiner Kritik getrübten nationalen Volksgesinnung die jeweilige Realität gemessen wird. So auch hier.

"EU oder Krieg" ist die falsche Alternative und lässt sich auch nicht aus der Geschichte der Weltkriege ableiten.“

Und die richtige Alternative? Vermutlich heißt sie für die Autor/innen „dEUtschland oder Deutschland“, da wollen sie sich nicht festlegen. Jedenfalls sind die Vier strikt dagegen, sich mit dem Verweis auf zwei Weltkriege die EU aufnötigen zu lassen; die soll sich in Zukunft daran messen lassen, wie sie dem deutschen Interesse dient und nicht mehr ein außer Frage stehendes Stück europäischer Friedensarchitektur sein. Sie plädieren hier für eine bemerkenswerte Renovierung der deutschen und europäischen Gedenkkultur. Einen wirklichen Politikwechsel würde das nicht bedeuten, denn so machen es alle längst.

Ein abgeklärter Blick auf die Vergangenheit tut not. Er würde uns zu einem unaufgeregteren Selbstbild unserer Rolle in Europa und der Welt verhelfen. Und das wäre ein wirklicher Fortschritt.“

Und das unaufgeregte Selbstbild „unserer“ Rolle führt dann zu einer schönen, aufregenden, aber unaufgeregten Großmachtpolitik in der Welt, und zwar so, wie Deutschland das braucht. Und wohin dieser „Fortschritt“ führt? Nach Deutschland und in die Welt. Wohin denn auch sonst.

1 Dieses und alle weiteren kursiv gesetzten Zitate aus „Der Beginn vieler Schrecken. Warum die Vorstellung von der friedensstiftenden Wirkung der europäischen Einigung, insofern sie das Nationale überwindet, auf falschen Prämissen beruht. Ein Beitrag zur Schulddebatte 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914“, von Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan, Thomas Weber, Die Welt 03.01.14 .

2 Clarke, Christopher: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013. Das Buch stand mehrere Monate auf den Beststellerlisten.

 

3 Die letzte Tage der Menschheit, I. Akt, 1. Szene.