31.12.1999 PDF

Je ärmer und je schwärzer desto zuviel

Kritik der Bevölkerungspolitik

"Kurz vor dem Ende des 20. Jahrhunderts hat die Weltbevölkerung die Sechs-Milliarden-Marke erreicht. Nie zuvor lebten so viele Menschen auf der Erde wie heute. Die Bewältigung des rapiden Weltbevölkerungswachstums ist eine der größten Herausforderungen für die Zukunft der Menschheit."
(Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, in: http://www.weltbevoelkerung.de/6mrd_zukunft.html)


Die Behauptung, dass "Überbevölkerung" die Ursache von Armut, Hunger und Umweltzerstörung sei, gilt heute als Tatsache, die kaum mehr bewiesen werden muss.
Die Überzeugung, es gebe weltweit einfach zu viele Menschen, wird meistens nur noch bebildert: durch das Vorführen von riesigen Menschenmassen auf engstem Raum. Dabei denkt natürlich niemand an eine deutsche Fußgängerzone - statt dessen wird die drangvolle Enge in Slumgebieten rund um Müllkippen in der Dritten Welt beschrieben. Damit ist auch gesagt, wo das Problem der rasanten Vermehrung der Weltbevölkerung anzusiedeln sei, nämlich in den "unterentwickelten" Ländern der Erde.
Das Gerede von der "Bevölkerungsexplosion" geht mit dem Vorwurf einher, die Menschen in der Dritten Welt seien durch ihre "unkontrollierte Vermehrung" selbst schuld an ihrem Elend und "zerstörten außerdem die Umwelt". Es wird zwar erkannt, dass viele Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder zu geringem Lohn nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Diskutiert wird dann jedoch nicht etwa darüber, wie eine Produktionsweise bewerkstelligt werden könnte, zu der Armut nicht mehr dazugehört, sondern nur, wie der "hemmungslosen Vermehrung" der Armen am besten beizukommen sei und welche bevölkerungspolitischen Maßnahmen dabei erlaubt oder unsittlich seien.
Bei jeder Bevölkerungspolitik werden Menschen zu Objekten gemacht, die an die Wirtschaftsverhältnisse, die eigentliche Ursache von Armut und Ruinierung der Lebensbedingungen, angepasst werden sollen - vor allem durch die Manipulation ihres Vermehrungsverhaltens.


I. Die Tragfähigkeit der Erde
Naturgesetz Hunger?
In der Diskussion über die Notwendigkeit bevölkerungspolitischer Maßnahmen wird oft behauptet, die Erde sei "zu klein", als dass sich die Menschenmassen, die sie bevölkern, ernähren könnten. Die Befürworter einer Bevölkerungspolitik malen in Schreckensvisionen das Bild, dass die Weltbevölkerung - quasi als Naturgesetz - ins Unermessliche wachsen müsse, während die Erde und damit die landwirtschaftlich nutzbare Fläche nur in begrenztem Maß zur Verfügung stünden.
Diese Argumentation setzt die Nahrungsmittelproduktion als statische Gegebenheit voraus und stellt ihr eine wachsende Bevölkerungszahl gegenüber. Auf diese Weise ist jedes Problem als Überbevölkerungsproblem interpretierbar. Jeder gesellschaftliche Mangel kann so durch die Parole der "Bevölkerungsexplosion" bebildert werden.
Dass die Ursache des Ernährungsproblems nicht das Bevölkerungswachstum ist, sondern die Tatsache, dass die ganze Welt flächendeckend den Bedingungen des Geldverdienens unterworfen ist, sagen selbst UNO-Experten: "Während der vergangenen zehn Jahre ist die Lebensmittelproduktion weltweit um 24 Prozent, und damit schneller als das Bevölkerungswachstum gestiegen ... Die meisten Experten sind sich darin einig, dass es keine allgemeine und weltweite Lebensmittelknappheit gibt ... Nicht so sehr ein Mangel an Lebensmitteln als vielmehr einer an Kaufkraft wird denn auch allgemein als Grund für Unter- bzw. Fehlernährung angesehen." (Aus der Einleitung des "Weltbevölkerungsberichts 1994")

Es stimmt also nicht, dass derzeit zuwenig Lebensmittel produziert werden, um die Weltbevölkerung ernähren zu können. Hunger ist kein Naturgesetz, sondern resultiert aus den ökonomischen und politischen Verhältnissen. Selbst wenn es momentan zuwenig Lebensmittel gäbe, bestünde die Möglichkeit ihrer Produktion - wenn die Menschen das bestimmende Subjekt der Wirtschaftsweise wären, die vorhandenen technischen Möglichkeiten also planmäßig einsetzten.

Der Mensch als Schädling
Inzwischen geht es in den Debatten um Bevölkerungspolitik jedoch kaum mehr darum, dass Millionen von Menschen vom Hungertod bedroht sind. Statt dessen ist die angebliche Zerstörung der Umwelt durch das Wachstum der Weltbevölkerung zum Hauptproblem geworden. Dieser Behauptung wird durch einprägsame Rechenkunststücke Nachdruck verliehen: Man dividiere die Energie, die die kapitalistische Produktionsweise verbraucht, und den Dreck und das Gift, das sie in die Atmosphäre bläst, durch die Anzahl der Leute, die in den Industrieländern unter diesen Bedingungen leben und arbeiten müssen, und schon hat man den Beweis: Der Mensch ist ein gieriger Ressourcenverbraucher. Dabei wird völlig unterschlagen, dass sich "der Mensch in den Industrieländern" schon ein wenig unterscheidet: in solche, die Eigentümer von Produktionsmitteln sind und bei deren Geschäft aus Kostengründen die Umweltvergiftung dazugehört, und die große Mehrzahl der Lohnabhängigen, die selber nur eine Ressource des kapitalistischen Wachstums darstellen und im Umweltdreck nicht die Quittung für ihren Überfluss, sondern ein weiteres Stück Armut verpasst bekommen. Die kapitalistisch produzierte Naturzerstörung wird so jedem einzelnen zur Last gelegt.
Ist diese Division gemacht, lässt sich weiterrechnen: Jetzt wird der "Dreck-pro-Kopf" mit der Zahl der Köpfe in der Dritten Welt multipliziert - das Ergebnis ist so katastrophal wie beabsichtigt. Nach dieser streng mathematischen Beweisführung wird das Bevölkerungswachstum zur Hauptursache der Umweltzerstörung ernannt. Dementsprechend heißt es im Weltbevölkerungsbericht 1990:
"Ganz gleich, ob Industrieländer oder Entwicklungsländer. Je mehr Menschen, desto mehr Verschmutzung. Auf jeder Entwicklungsstufe verbrauchen mehr Menschen mehr Ressourcen und produzieren mehr Abfall."

Mensch und Natur
Mit unzähligen Computerberechnungen wird die Bestimmung der "Tragfähigkeit der Erde" versucht, um eine berechnete Grenze für die Größe der Weltbevölkerung zu erhalten. Es kann jedoch keine Antwort darauf geben, wie viele Menschen die Erde tragen kann, da sich die Natur ständig durch die Bearbeitung der Menschen verändert. Sie sind zum Überleben auf die Bearbeitung der Natur angewiesen. Diese kann also nicht als statische Gegebenheit der "Biomasse Mensch" gegenübergestellt werden. Für jede Produktion wird die Natur gebraucht und Naturstoff verbraucht. Die entscheidende Ursache für die Ruinierung der Lebensgrundlagen ist jedoch nicht die Zahl der Menschen, sondern wie die Veränderung der Natur geschieht, also wie die Menschen wirtschaften.

II. Überbevölkerung - Wer ist hier zuviel?

Der weltweit durchgesetzte Kapitalismus hat die Subsistenzwirtschaft beseitigt und die Massen in die Abhängigkeit von Lohnarbeit gebracht. Die Möglichkeit, seine Arbeitskraft überhaupt zu verkaufen, hängt wiederum vom Wachstum des privaten Reichtums ab, den die kapitalistischen Eigentümer im Konkurrenzkampf gegeneinander erzielen. Für das Funktionieren der "freien Marktwirtschaft" müssen die Lohnabhängigen durchaus Opfer bringen: Dass diese Wirtschaft beständig Arbeitslose erzeugt, ist ebenso bekannt wie der Umstand, dass es Millionen von Menschen am Überlebensnotwendigen fehlt. Der Zweck des Kapitalismus liegt nicht etwa in der optimalen Versorgung der Bevölkerung, sondern Menschen werden angewandt, um Kapital zu vermehren.

"Der Begriff Überbevölkerung provoziert Vorstellungen von Enge, Überfülltheit, von Menschenmassen, die dicht gedrängt zusammenleben. Bezieht man den Begriff auf die reale Bevölkerungsdichte eines Landes, ergibt sich ein anderes Bild ... Die Bundesrepublik Deutschland z.B. war 1994 mit 245 Einwohnern pro Quadratkilometer dichter besiedelt als Indien ... Unter den zehn am dichtesten besiedelten Ländern der Erde befinden sich fünf nordeuropäische Staaten. Die Schweiz, Dänemark, die Bundesrepublik, Belgien und die Niederlande waren 1984 wesentlich dichter bevölkert als z.B. Bolivien, der Tschad und Somalia .... Dennoch gelten gerade diese drei Staaten als verantwortungslos überbevölkert." (Aus: Ingrid Strobl, Strange Fruit)

Die Menschen werden von Staat und Kapital nur als Mittel der Reichtumsproduktion behandelt. Das offensichtliche Missverhältnis zwischen der erreichten Naturbeherrschung und den vorhandenen technischen Produktionsmöglichkeiten einerseits und dem weltweiten Elend andererseits veranlasst seltsamerweise kaum jemanden, die kapitalistische Produktionsweise in Frage zu stellen. Die heute existierende Armut ist nicht in einer unbeherrschten Abhängigkeit von der Natur, sondern in den Sachnotwendigkeiten des Kapitalismus begründet.
Mittlerweile hat die Masse der Weltbevölkerung bestenfalls noch die Chance, von Lohnarbeit zu leben. Wenn Menschen aber in der Wirtschaft nicht (mehr) gebraucht werden, bedeutet das, ökonomisch überflüssig zu sein.
Die moderne Überbevölkerung ist also nichts anderes als die Menge der überflüssigen, nicht benutzten Lohnabhängigen im Kapitalismus.
Welche und wie viele Menschen nun für "zuviel" befunden werden, hängt also nicht von der absoluten Zahl der Weltbevölkerung ab, sondern davon, ob die vorhandenen Menschen im kapitalistischen Geschäft nützlich oder unnütz sind!
Die Länder der Dritten Welt dienen - durch die "Leistungen" der Weltwirtschaft und durch die imperialistische Ordnung, durchgesetzt von der Staatsgewalt der kapitalistisch erfolgreichen Nationen - nur als "Rohstofflieferanten" oder "Schuldnerländer". Ihre Bevölkerung ist dem weltweiten Kapitalismus unterworfen und großenteils von den Bedingungen der Selbstversorgung "emanzipiert" - ohne dass eine Benutzung ihrer Arbeitskraft durchs weltweite Geschäftsleben stattfände! Die Länder der Dritten Welt sind in den Weltmarkt integriert, auch ohne dass ihre Bevölkerung als Arbeitskraft genutzt wird.
In den Elendsvierteln der Dritten Welt sammelt sich also die weltweit überflüssig gemachte Bevölkerung. Grenzen und die Ordnungsleistungen der "entwickelten" Länder sorgen dann dafür, die unnützen Armen dort festzuhalten.
Damit ist auch das "Urteil" über die dortigen Menschenmassen gefällt: Es sind auf alle Fälle zu viele!

Der Grundgedanke der Überbevölkerung geht auf Thomas R. Malthus zurück. Er formulierte 1798 das Bevölkerungsgesetz, demzufolge die Menschheit exponentiell (1, 2, 4, 8, ...), die Nahrungsmittel dagegen nur linear (1, 2, 3, 4, ...) anwüchsen. Die Folge sei, dass zwischen der Menschenzahl und den verfügbaren Nahrungsmitteln ein Missverhältnis eintrete, das zu Massenelend und -tod führen müsse. Der Geistliche Malthus sah das Elend der Armen in ihrem "ungehemmten Vermehrungstrieb" begründet und unterstellte ihnen damit, ihre Armut sei selbstverschuldet. Diese schon alte und längst widerlegte Theorie von Malthus zieht sich bis heute - mit ökologischen Aspekten angereichert - durch die Debatte um die Bevölkerungspolitik. Dass das "Überbevölkerungsproblem" mit der absoluten Anzahl der Menschen nichts zu tun hat, hätte den Wiederentdeckern der Botschaft von Malthus eigentlich auffallen können: Als dieser der Menschheit eine Bevölkerungskatastrophe bescheinigte, lag die Weltbevölkerung bei ca. einer Milliarde Menschen.

Als Problem erscheint somit nicht mehr die Armut, sondern die große Anzahl und Vermehrung der Armen. Die propagierte Lösung dafür lautet: Bevölkerungspolitik. So wird der Versuch unternommen, die Vermehrung der Armen zu verhindern - und nicht die ökonomischen Verhältnisse zu ändern, die Ursache dieser Armut sind.

III. Bevölkerungspolitik und Rassismus

Zur Legitimation von Bevölkerungspolitik werden Ängste vor Umweltzerstörung mobilisiert und umgewandelt in die Angst vor der "Bevölkerungsexplosion". In den Diskussionen über Bevölkerungswachstum sind immer die gleichen Bilder zu erkennen: Die Rede ist von der "Bevölkerungsbombe" - mindestens so gefährlich wie die Atombombe -, von "Menschenfluten", "Überschwemmungen" oder "Menschenlawinen". Diese Bilder suggerieren eine riesige Gefahr, gegen die man sich schützen muss - zur Not mit allen Mitteln. Die Propagandisten einer Bevölkerungspolitik lassen keinen Zweifel aufkommen, aus welchen Menschen denn die Fluten und Explosionen bestehen: In Zeitschriften wie Zeit, Stern, Spiegel oder Greenpeace-Magazin werden Bedrohungsszenarien mit Bildern von fremdländisch aussehenden Menschenmassen geschmückt. Beispielsweise fragt ein Sonderheft der Zeit auf der Titelseite: "Wird der Mensch zur Plage?" und zeigt dar über ein überfülltes Fahrzeug - die Leute darauf haben alle dunkle Haut.
Es wird klar, welche Menschen in den Augen der Befürworter der Bevölkerungspolitik "zuviel" sind: jedenfalls nicht die, die europäisch oder US-amerikanisch und "weiß" aussehen.
Das ökonomische Urteil, welche Lohnabhängigen überflüssig sind, ist zunächst abstrakt und kann jeden treffen. Die Bevölkerungspolitik und ihre Anhänger machen jedoch eine bestimmte Gruppe von Menschen aus, die "zuviel" sind. Ihr sorgenvoller Blick auf die Weltbevölkerung sortiert diese nach rassistischen Kriterien. Moderne bevölkerungspolitische Konzepte stehen nach wie vor in engem Zusammenhang zu rassenhygienischen Theorien, das Menschenbild der Ungleichheit - und damit Ungleichwertigkeit - ist weit verbreitet. Deutlich zeigt sich die unterschiedliche Bewertung von Menschen dort, wo einerseits das schaurige Szenario der "Bevölkerungsexplosion" entworfen, andererseits aber vor dem "Vergreisen", wenn nicht gar Aussterben der Deutschen gewarnt wird.

Die "Rolle der Frau"
Auf der Weltbevölkerungskonferenz der UNO 1994 war es selbstverständlich, dass die Menschenzahl in der dritten Welt reduziert werden muss. So wurde dort nicht etwa gefragt, im Verhältnis wozu die Menschen zu viele sind, sondern darüber diskutiert, welche bevölkerungspolitischen Programme moralisch vertretbar seien, um die "Bevölkerungsflut" einzudämmen. Der neueste Ansatz dafür ist die Förderung der Emanzipation von Frauen in der dritten Welt. Familienpolitiker, die daheim das Mutterglück preisen, erkennen plötzlich, dass kluge Frauen sich keine Kinder machen lassen - und wollen deswegen verelendete Slumbewohnerinnen mit Bildungsprogrammen versorgen. Die Nöte dieser Frauen betrifft das nicht im geringsten, darauf kommt es aber auch nicht an. Vielmehr werden diese Nöte unter dem Titel "Selbstbestimmung der Frau" zu einem Problem "falschen Vermehrungsverhaltens" erklärt.

Dieser Text wurde Mitte der Neunziger als Flugblatt veröffentlicht und zuletzt 2000 überarbeitet und verbreitet.