26.04.2020 PDF

Geschichten aus der Pandemie: Das Märchen vom chinesischen Virus

Die anti-chinesischen Reflexe sitzen tief: Ob Landgrabbing, steigende Immobilienpreise in Vancouver und Cambridge oder jetzt Covid-19, der Finger zeigt in der Regel schnell nach China als dem Schuldigen für ganz schön vieles. Als zum Jahreswechsel Covid-19 in Wuhan ausbrach, war sich ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit mit ihrer Regierung recht schnell einig: a) weit weg, b) sowas kann in Deutschland nicht passieren und c) selbst wenn, würde man niemals zu solch autoritären Maßnahmen greifen. Eine Stadt und ihre anliegende Provinz unter eine Ausgangssperre setzen, sowas erlauben sich nur fiese autoritäre Staaten, die zudem an latenter Selbstüberschätzung leiden. Deswegen mutet der Vorwurf zweier englischsprachiger Wissenschaftler in der SZ vom 23. März 2020 sehr komisch an, wenn sie schreiben: „Als Covid-19 ausbrach, spielte die chinesische Regierung anfangs die Bedeutung des Virus noch herunter.“1 Das mag ja sein, aber welche Regierung der westlichen Welt hat denn die Bedeutung des Virus rechtzeitig erkannt? In Ischgl feierte man Apres-Ski, in Mailand den Fußball und in New Orleans den Mardi Grass als längst klar war, dass das Virus in der ganzen Welt angekommen war. Insofern also sollte man vorsichtig sein, allein China vorzuwerfen, sie hätten die Bedeutung des Virus herunter gespielt. Was dann auch immer ein Umdenken vieler westlicher Regierungen bewirkt haben mag: der Umstand, dass der Börsenhandel in der zweiten Märzwoche mehrmals unterbrochen werden musste, weil die Aktienkurse einbrachen, der Umstand dass der Lockdown in Wuhan noch immer andauerte, die alarmierenden Zahlen aus Italien oder aber doch die Modellierungsstudie aus dem Imperial College London, das scheint sich von Regierung zu Regierung zu unterscheiden. Nicht zuletzt mit Blick auf ihre Volkswirtschaften taten sich die meisten Staaten jedoch schwer mit ihren jeweils ersten Maßnahmen, manche Staaten waren lange der Meinung, Covid-19 sei eine etwas härtere Grippe (USA und GB). Ihnen allen ist gemeinsam der leicht neidische Blick auf Südkorea und Taiwan, wo das öffentliche Leben (und damit die Wirtschaft) deutlich weniger eingeschränkt wurden als im Rest der Welt.

Warum Chinas Zahlen nicht stimmen können, selbst wenn sie stimmen würden

In Besprechungen des chinesischen Falles fällt immer wieder auf, wie wenig man den Zahlen Chinas vertraut. Noch jede westliche Kommentator*in weiß darum, dass die chinesischen Zahlen nicht stimmen können, und nehmen das als Ausdruck dessen, dass China prinzipiell nicht zu trauen ist und eh nach Strich und Faden bescheißt. In der Regel machen die gleichen Kommentator_innen (unter anderem der von allen geschätzte Christian Drosten) dann nach dem prinzipiellem Zweifel an den chinesischen Zahlen der ersten Infektionswelle nahtlos weiter und grübeln über die Dunkelziffern, die in Italien wegen der hohen Mortalität enorm sein müssen. Und ja durchaus, noch Mitte März musste man zugeben, auch Deutschland käme an seine Grenzen mit den Tests. Auch hier gibt es also eine Dunkelziffer. Die ist aber anders als das, was in China passiert ist. Denn die Zahlen aus China stimmen nicht, weil China = autoritäres System, weswegen es seine echten Zahlen verschweigt. Und warum stimmen die Zahlen in Deutschland nicht oder in Italien? Na, hier ist das natürlich eine Kapazitätenfrage des Gesundheitswesens. Auch hier zeigt sich der anti-chinesische Reflex, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird. Warum ist es denn nicht denkbar, dass auch in Wuhan die Laborkapazitäten schlicht nicht mehr Tests hergaben? Nein, dort liegt die Antwort auf der Hand: China verschweigt die richtigen Zahlen in voller Absicht. China wird also etwas zugetraut, woran der „Westen“ gerade scheitert, nämlich die Dunkelziffer zu kennen. Manche Kommentatoren tun so als hätte China einfach keine Dunkelziffer, denn dort sind sie so autoritär, dass sie schlicht alles wissen. Von der vermeintlich unglaublichen Potenz des chinesischen Staates zeugt auch das folgende Zitat der beiden Wissenschaftler:

Wie kann es sein, möchten wir fragen, dass die allmächtige chinesische Regierung, die innerhalb weniger Tage viele Millionen Menschen mit Ausgangsperren belegen kann…“ (SZ vom 23.03.2020).

Sorry, wenn sich das Muster wiederholt, aber welche Regierung hat es denn nicht in der Hand, die schließlich von niemand anders als allein von ihr gewährten Freiheiten jederzeit auch wieder einzustreichen? Noch fast jede Regierung hat in den vergangenen Wochen zu unterschiedlich harten Maßnahmen gegriffen, die auf englisch, weil dann klingt es weniger drastisch, als social distancing gewürdigt werden. Mit anderen Worten, nicht nur die „allmächtige“ chinesische Regierung hat Millionen Menschen mit Ausgangssperre belegt, sondern viele andere kein bißchen weniger mächtigen westlichen Regierungen haben jeweils ihre Millionen Menschen mit Ausgangsperren belegt. Es gehört zur Natur aller Staaten, dass sie ihrer Bevölkerung vorschreiben in welchen Bahnen ihr Leben abzulaufen hat.2 Ganz abgesehen davon, dass sich die geheuchelte Empörung über „die Chinesen“, die doch glatt einen ganzen Landstrich abriegeln, in den Feuilletons von Januar und Februar in den gleichen Kolumnen verwandelt hat in offenes Entsetzen über Präsident Trump, der den Ernst der Lage zu lange nicht begreifen wollte und es an zupackenden Maßnahmen missen ließ.

Die beiden Wissenschaftler in der SZ setzen unterdessen ihre Analyse fort und verkünden, China hätte im Jahre 2003 den Ausbruch von SARS als Weckruf verstehen müssen. Nicht aber der Rest der Welt, der am Gesundheitssystem aus wirtschaftspolitischen Gründen gespart hat, sondern vor allem China hat es an den notwendigen Schutzmaßnahmen missen lassen. Dass Wissenschaftler*innen und Gesundheitsorganisationen seit Jahrzehnten vor einer Pandemie warnen, wird bei dieser Art der Schuldfrage schlicht ignoriert. Nein, nein, die beiden Wissenschaftler aus der SZ meinen wie viele andere zu wissen, China sei schuld. Das können dann die Essgewohnheiten sein, die Tradition also oder eben doch der Fortschritt, und manchmal auch die schwierige Gemengelage aus beidem, oder dass es einfach zu viele sind:

„Die chinesischen Märkte sind besonders anfällig für Epidemien, weil China nicht nur mehr Einwohner hat als alle anderen Länder der Welt, sondern durch Hochgeschwindigkeitszüge, Flugrouten und den Autoverkehr auch immer stärker vernetzt ist.“ Da werden diese Chinesen doch glatt mobil und globalisieren sich einfach so. Anscheinend sind Flugrouten und Hochgeschwindigkeitszüge den westlichen Gesellschaften vorbehalten? Die Herren Wissenschaftler vergessen, dass es in dieser Weltwirtschaft andere Mächte waren, die der ganzen Welt die Globalisierung und Vernetzung aufgenötigt haben, um dann an diesen Staaten aufs Herrlichste zu verdienen. Statt China als den Schuldigen auszumachen, wäre es womöglich sinnvoller sich nochmal kurz den Zusammenhang der Weltwirtschaft vor Augen zu halten und was es heißt, wenn noch jeder Winkel dieser Welt den Profitinteressen des Kapitals unterworfen wird. So käme man der Erklärung dieser Pandemie sicherlich näher als mit den rassistischen und aber als kulturelle Eigenheiten daherkommenden Erklärungsmusters über Essgewohnheiten und Lebensstile in China. Man muss also nicht Trump sein um vom „chinesischen Virus“ zu schwafeln. Der dürfte seinen Unsinn auch niemals im Feuilleton der SZ verbreiten, dort stehen tut dieser Unsinn aber trotzdem.

Warum Chinas Hilfe nicht selbstlos sein kann, selbst wenn sie selbstlos wäre

China ist nicht verantwortlich für die Toten und Kranken, die jetzt weltweit anstehen. Trotzdem muss es sich beständig genau diese Frage gefallen lassen, ob es nicht schuld sei am Virus überhaupt? Oder vielleicht sogar doch sehenden Auges die Pandemie herbeigeführt habe, wie es Trump behauptet. Dafür dass es irgendwie an China liegen muss, ist es praktisch, dass das neuartige Sars-2-Virus da zum ersten mal aufgetreten ist. Aber das ist nicht alles. Der Besprechung der Corona-Epidemie in China und seiner aktuellen Rolle in der weltweiten Epidemie sieht man den Standpunkt, dass sich China ganz prinzipiell einfach zu viel raus nimmt, an. Chinas steigender Reichtum in den letzten Jahren gilt als Abtrag am eigenen (dabei kann man doch sonst in der EU und in jeder Freihandelszone so schön aneinander verdienen) China stört als Global Player und als Weltmacht will man es schon mal gar nicht haben/tolerieren. Bei der aktuellen Besprechung der Rolle Chinas bewahrheitet sich mal wieder eine Regel aus dem Imperialismus-Seminar I. Immer bei den anderen Staaten sieht man die Gewalt und meint „unlautere“ Interessen zu entdecken. Interessen die man bei sich leicht übersieht. China stört als Konkurrent um Absatzmärkte auf denen man gerne selbst das Heft in der Hand hätte. Auch wenn man nicht umhinkommt aneinander zu verdienen und man etwa auch auf chinesische Zulieferbetriebe angewiesen ist, gilt Chinas steigender Reichtum in den letzten Jahren vor allem als Abtrag am eigenen. Ob bei Huawei, 5G, Handelstarifen oder jetzt sogar bei den Lieferungen von Atemschutzmasken nach Italien gilt es China in die Schranken zu weisen. So erkennt der außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag hier „mehr Symbolik als wirkliche Hilfe“.3 Dass „China sich als Retter geriert“ (jetzt sagt es ein Genosse der SPD), könne man sich nicht bieten lassen. Den chinesischen Schutzmasken wird glatt jede Linderung oder Hilfe abgesprochen, sondern allein als zynischer Ausdruck eines chinesischen PR-Coups gelesen. Als käme Außenpolitik ohne PR aus... Die Pflegekräfte in den italienischen Kliniken, die schlicht jede Maske brauchen, interessieren bei solchen weltbewegenden Fragen natürlich erstmal nicht so sehr. Wäre also die Frage, wo genau liegt jetzt der Zynismus? Bei denen, die dringend benötigtes Material (wohlgemerkt gegen Geld) nach Italien und Spanien liefern oder bei denen, die sagen, ohne diese Maskenlieferungen wäre Europa ein besserer Ort, weil chinafrei?

Dieser Text bezieht sich auf den Zeitraum Ende März/Anfang April 2020 und stammt von der Gruppe Kritik im Handgemenge Berlin. Innerhalb von GKN ist der Text umstritten.

1 Jared Diamond ist Evolutionsbiologe und lehrt an der University of California. Nathan Wolfe ist Virologe. Ihr Artikel heißt „Der Virenmarkt“ und erschien in der SZ vom 23.03.2020.

2 So gewährt der deutsche Staat den Bürger*innen in den Grundrechten Freiheiten, die an den Freiheiten anderer ihre Grenzen haben. Zugleich ist geregelt, wie der Staat diese Freiheiten wieder kassieren kann. Ein aktuelles Beispiel für diese Praxis lässt sich in den heutigen Zeiten einer vom Bundestag beschlossenen „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (Infektionsschutzgesetz) anschauen.

3 SZ vom 01.04.2020.