09.07.2020 PDF

Geld oder Leben

Sars-Cov-2 ist ein Virus, von dem man weiß, dass es sehr gefährlich sein kann, wenn man sich infiziert. Man weiß auch, dass es sich je nach Situation und Konstellation sehr schnell ausbreiten kann. Man weiß auch, dass es für viele Menschen nicht wirklich gefährlich ist – zumindest nicht unmittelbar, denn eventuelle Langzeitfolgen kennt man noch nicht. Aber wenn es sich stark verbreitet und viele Menschen infiziert sind, werden zahlenmäßig eben doch sehr viele Menschen krank, schwer krank oder sterben.

"Heben Sie den Lockdown auf, bevor es zu spät ist!", hat der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) in einem Offenen Brief1 an Bundeskanzlerin Merkel gefordert. In dem Schreiben wird der Bundesregierung aufgrund des von ihr seit dem 23. März 2020 verordneten "Lockdown" ein "gefährliches Spiel mit den Zukunftschancen dieses Landes" vorgehalten. Auch BDI-Präsident Dieter Kempf sagt: "Jede Woche eines Shutdowns kostet die deutsche Volkswirtschaft einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag an Wertschöpfung." (https://www.tagesschau.de/wirtschaft/wirtschaft-deutschland-corona-101.html, 02.05.2020). Und nicht nur die Industrie, sondern auch in der Politik wird von Laschet über Lindner bis Schäuble immer stärker darauf verwiesen, dass die Pandemie-Eindämmungs-Beschränkungen immer mehr allgemeinen wirtschaftlichen Schaden anrichten und dass der Staatshaushalt nicht unbegrenzt Einkommensausfälle kompensieren kann. Dass allgemeiner wirtschaftlicher Schaden wegen ausbleibender Unternehmensgewinne für den Normalmenschen die Gefährdung des Arbeitsplatzes bedeutet, ist dabei immer mitgedacht und wird auch so verstanden. Das wird dann mit Bildern von Einzelschicksalen veranschaulicht, die zeigen, dass verminderte oder weg gefallene Einkommen große materielle Probleme mit sich bringen und darüber hinaus zu massiven Existenzängsten führen. Geld oder Leben, scheint die Frage zu sein, die in der derzeitigen Situation auf dem Tisch liegt.

Aber was ist das eigentlich für eine komische Wirtschaft, bei der nach wenigen Monaten eingeschränkter Tätigkeit bereits massenhafte Verarmung droht? Es werden doch weiterhin genügend von den regelmäßig benötigten Konsumgütern hergestellt. In den Bäckereien liegen weiterhin zehn Sorten Brot herum, die Spargelsaison fällt nicht aus und selbst an Klopapier fehlt es nicht. Eigentlich ließe sich die Situation doch noch einige Zeit aushalten.

Konkrete Probleme bei der Brot- Spargel- oder Klopapierproduktion werden auch für die nächste Zeit nicht befürchtet. Aber um Versorgungsengpässe bei bestimmten notwendigen Produkten geht es in der Öffnungsdiskussion auch gar nicht: Es wird festgestellt, dass sich "die Wirtschaft" ganz allgemein wegen der Restriktionen bereits in einer Krise befinde, und befürchtet, dass sich diese Krise verschärfen und letztlich zu unabsehbaren Schäden führen könnte. Wieso eigentlich?

Natürlich liegen gerade viele Betriebe still, angefangen von der Eckkneipe bis hin zur Autofabrik2. Nun könnte man fragen, was daran wieder so schlimm sein soll. Nahrungsmittel für beschäftigungslose Wirte und Autoschrauberinnen sind ja hinreichend vorhanden und werden weiterhin hergestellt. Die Kneipen und Fabriken gehen auch nach einem halben Jahr Stillstand nicht kaputt, sondern stehen da und können bei Bedarf wieder benutzt werden. Warum also nicht noch bei reduzierter Produktion etwas abwarten, bis das Virus ganz sicher unter Kontrolle ist und dann normal weitermachen? Dann würden im Jahr 2020 halt ein paar weniger Autos produziert und viele Cocktails nicht in der Kneipe, sondern zu Hause getrunken.

Jetzt meldet sich der wirtschaftliche Sachverstand und sagt: So einfach ist das aber nicht! Für die Kneipe muss regelmäßig Miete gezahlt werden, egal ob sie geöffnet ist oder nicht. Die Autofabrik hat langlaufende Lieferverträge mit Stahlwerken und Lackherstellern abgeschlossen. Die verlangen regelmäßige Bezahlung. Ob Stahl oder Lack gerade verarbeitet werden können, ist dabei egal.3 Die stillstehenden Unternehmen haben also ein Problem: Es werden weiterhin regelmäßige Zahlungen fällig, Einnahmen gibt es aber nicht oder nur deutlich reduziert. Eine Weile können diese Zahlungen aus Reserven oder durch Aufnahme von Krediten beglichen werden. Früher oder später (bei den meisten Unternehmen eher früher) ist damit aber Schluss. Und dann geht das Unternehmen kaputt, nicht weil die Alkoholvorräte und Kneipeneinrichtung durch ausbleibende Benutzung beschädigt wird, sondern weil der Wirt sie verkaufen muss, um die Rechnungen zu bezahlen. Die Räume verliert er auch noch, weil er die Miete nicht mehr zahlen kann. Mit der Autofabrik würde in viel größerem Maßstab dasselbe passieren.

Außerdem werden die Lebensmittel, von denen derzeit ja weiterhin ausreichend produziert werden, auch jetzt nicht einfach abgegeben – sie müssen weiterhin bezahlt werden. Wirt und Autoschrauberin haben also ein Problem, noch bevor Autofabrik und Kneipe insolvent sind: Sie müssen weiterhin ihre Lebensmittel bezahlen. Der Wirt hat aber keine Einnahmen aus der Kneipe mehr und die Autoschrauberin verliert ihre Stelle, weil der Automobilhersteller ihren Lohn einsparen will.

Hier greift der Staat ein. Neben vielen anderen Maßnahmen, z.B. zeitlich begrenzter Kündigungsschutz für Mieter trotz rückständiger Mietzahlungen, organisiert er finanzielle Unterstützung für Unternehmen, Soloselbständige und Arbeitnehmer. Das geschieht teils in Form von Krediten und hat für die Empfänger der Leistungen die unangenehme Seite, dass sie die Hilfskredite später zusätzlich zu ihren sonstigen Kosten bezahlen müssen, obwohl sie absehbar nicht mehr verdienen werden als vor der Krise. Teils werden auch direkte Zuschüsse gegeben. Diese belasten aber den Staatshaushalt und werden deswegen nicht so unbegrenzt gezahlt, wie es zum Ausgleich der wegbrechenden Einnahmen notwendig wäre. Das Grundproblem bleibt: Wegen reduzierter Produktion wird weniger Geld verdient. Das kann durch staatliche Hilfsmaßnahmen vielleicht gemildert und für kurze Zeit aushaltbar gemacht werden – aufgehoben ist es damit nicht.

An der Stelle zeigt sich, dass Geld nicht einfach ein cleveres Steuerungsmittel ist, um eine bedarfsgerechte Produktion zu ermöglichen. Es geht beim Geld nicht einfach darum, dass steigende Cocktailpreise einen Mangel an Kneipen anzeigen und zur Eröffnung neuer anregen. Im Gegenteil: Geld ist das einzige Mittel, um an Dinge, die man zum Leben benötigt, ran zu kommen. Wenn alle Dinge – inklusive der notwendigen Lebensmittel – Geld kosten, dann benötigen alle Insassen dieser Gesellschaft – Unternehmer genauso wie Arbeiter – eine dauerhaft fließende Geldquelle, so bescheiden sie für die Arbeiter auch immer ist. Deshalb ist Geld auch nicht "praktisch", sondern entscheidet über die Existenz4. Und deshalb ist für diese Gesellschaft eine Produktionspause, selbst wenn es weiterhin die wichtigen Lebensmittel ganz praktisch en masse gibt, eine mittlere bis schwere Katastrophe, denn das ständig benötigte Geld wird in der Produktion verdient. Steht die Produktion still, versiegt die Geldquelle und wird durch den Stillstand sogar zerstört: Kapitalismus verträgt keinen Stillstand.

In so einer Gesellschaft – und nur in so einer Gesellschaft – gibt es also ganz buchstäblich die trostlose Alternative: Geldverdienen mit dem Risiko der weiteren Verbreitung von COVID-19 oder gerettete Leben in fortschreitender Verarmung.

 

2https://www.bvmw.de/fileadmin/01-Presse_und_News/Pressemitteilungen/Dateien/Mittelstand-Offener-Brief-Bevor-es-zu-spaet-ist-01-05-2020.pdf

2Wobei die Produktion in den Autofabriken ja gerade wieder angefahren wird.

3Unter den regelmäßigen Zahlungen gibt es noch eine besondere Kategorie: Zins und Tilgung für aufgenommene Kredite. Wenn diese Zahlungen massenhaft ausbleiben, gefährdet der Zahlungsausfall die Geschäfte, die das das Bankwesen mit den Schulden dieser Gesellschaft macht und damit die Banken selbst. Wie und warum das so ist, wäre Material genug für eine Broschüre. Hier genügt die Feststellung, dass ein Zusammenbruch des Bankwesens wegen massenhafter Zahlungsausfälle zum Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft führen würde. Deswegen setzen die Zentralbanken mit Hilfsprogrammen eigener Art gerade alles daran, dass es dazu nicht kommt.

4Weiterführende Argumente hierzu in: "Die Misere hat System – Kapitalismus", 2. Kapitel, Seite 25 ff.; https://gegen-kapital-und-nation.org/page/die-misere-hat-system-kapitalismus/