30.04.2003 PDF

Alles neu macht der Mai

Die Gewalt der Gewaltlosigkeit

„Wir feiern den Krawall kaputt“, hat sich die Bürgerinitiative aus Kreuzberg, die das „Myfest“ organisierte, laut Tagesspiegel (2.5.) vorgenommen. Kreuzberg packts an. Die „Menschen sind nicht nur zum Feiern gekommen, sie wollen etwas verhindern — die Randale, die jedes Jahr wie ein Ritual zelebriert wird.“ (SZ, 3.5.) Das hört sich im ersten Moment ganz freundlich an: die Menschen sind gegen Gewalt, könnte man denken, sie wollen „friedliche Atmosphäre“ (Berliner Morgenpost, 2.5.), „ein Fest für alle, für eine gute Sache“ (Tagesspiegel). Was Friede, Freude, Eierkuchen bedeuten, wird auch ausgesprochen: „Ein Stück Normalität“ (Berliner Morgenpost) ist die gute Sache, die man feiert. Einzig nicht ausgesprochen wird, was diese Normalität bedeutet.


Als wären diejenigen, die heute Normalität feiern nicht sonst auch oft genug angekotzt, dass das ganze Leben nur daraus besteht, sich in Schule, Universität oder Lehrstelle für den Arbeitsplatz zurichten zu lassen, dort nahezu lebenslänglich Gewinne für das Unternehmen zu erwirtschaften, nur um dann ein Nachleben mit einer miesen Rente zu fristen, bald wahrscheinlich ohne dritte Zähne. Sogar der magere Rest, an den die Hoffnung auf ein bisschen Glück geknüpft werden muss: die sogenannte Freizeit ist mit dem Erholen von der Arbeit und dem Erhlten für die Arbeit mehr als ausgefüllt. So schön ist die Normalität, und so wird sie auch bleiben, wenn niemand etwas dagegen tut. Jede noch so kleine Forderung nach einem besseren Leben wird in Deutschland sofort mit dem Hinweis auf die wirtschaftlichen Bedingungen zum Schweigen gebracht wird. Nicht für die Menschen soll die Wirtschaft florieren, sondern damit Deutschland seinen Platz in der Welt sichert; es ist ein fataler Fehlschluss, dass es einem selbst gut geht, wenn es Deutschland gut geht. Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, gibt es mehr Arbeitslose, die Löhne müssen niedrig bleiben und es geht auch den Einzelnen schlecht, aber umgekehrt ist es nicht umgekehrt. Selbst wenn die Löhne stiegen, resultierte das nicht daraus, dass das der Zweck der Veranstaltung wäre; das mag einmal passieren bei einem Vorneliegen in der Konkurrenz, das dann aber auch impliziert, dass andere hinten liegen - mit allen Konsequenzen für deren Leben. Einen „Ausbruch von Gewalt“, wie die Bildzeitung den ersten Mai beschreibt (2.5.), kann es in dieser Gesellschaft nicht geben, weil die herrschende Normalität nichts anderes ist als Gewalt. Wir halten es für zynisch, einem Beibruch grausam zu finden, das Leben, das Rentner oder Arbeitslose fristen müssen aber ganz o.k.. Menschen, die die Ruhe und der Frieden der kapitalistischen Normalität feiern, feiern die Gewalt, ganz anders als die Demonstranten, die sich auf Transparenten wie „macht kaputt, was euch kaputt macht“ gegen die herrschende Gewalt richten.

Der Traum, den man träumt, ist nicht der von einer gewaltfreien Gesellschaft, sondern der „vom gewaltfreien 1. Mai“ (Berliner Kurier, 2.5.). Im Sonnenschein beim Feiern kann man sich schon ganz gut damit einrichten, welche Gewalt einem täglich widerfährt. Da stört der revolutionäre 1. Mai. Symptomatisch kommt das in Aussagen von Bürgern zutage, die gar nicht mehr dafür eintreten, dass es weniger Gewalt gibt, sondern nur dafür, dass sie sie nicht mehr sehen müssen: „Keinen Bock auf Stress“ (Tagesspiegel) oder „Ich kann diese Jungs nicht mehr sehen“ (ebd.). „Lauthals beschimpfte eine genervte Bewohnerin die steinewerfenden Randalierer vor ihrem Fenster. Sie war nicht die einzige , die nach 16 Jahren revolutionärer 1. Mai-Demonstrationen genug von den Zerstörungsorgien in ihrem Stadtteil hat.“ (Berliner Zeitung, 2.5.) Das „Myfest“ das couragierte Mitwirken daran, dass die Normalität möglichst harmlos erscheint: „Da hat die Kreuzberger Seele doch wieder was zum Festhalten.“ (Tagesspiegel)

Kein Wunder, dass solche Leute zwar gegen die Zerstörungen, aber für die friedliche freie Meinungsäußerung am 1. Mai sind: „Dafür ist der 1. Mai als Tag der Proteste da.“ (Tagesspiegel) Denn Meinungen sind eben nur Meinungen, daran muß man sich nicht stören. Die Gruppe „Kritik und Praxis [kp] Berlin“ zum Beispiel hat in ihrer Ankündigung zu der revolutionären 1. Mai-Demonstration versucht darzustellen, dass der herrschende Frieden nichts anderes ist als Gewalt. Die Konsequenz dieser Erkenntnis wäre der Normalität gefährlicher als jeder Steinewerfer. Weil sie aber sowieso nur als Meinung gilt, und man solche Überlegungen nicht auf Argumente und deren Wahrheit prüft, sondern nur mit der eigenen persönlichen Meinung abgleicht und sie je nach Übereinstimmung beachtet oder nicht, muß man sich durch keine Konsequenz aus der Ruhe bringen lassen; durch die Zerstörungen dagegen schon.

Wenn man sich schon nicht gegen die Gewalt der Normalität wehrt, dann doch wenigstens gegen diejenigen, die dagegen sind: „Anders als in vergangenen Jahren griffen zahlreiche Demonstranten ein und versuchten, die Krawallmacher abzudrängen. So wurde ein umgestürztes Auto wieder aufgerichtet.“ (Tagesspiegel) „Diesmal stand die Bevölkerung nicht mehr, wie manchmal in früheren Jahren, hinter Demonstranten, die im Eifer des ideologischen (!) Gefechts zum Pflasterstein griffen. Diesmal kooperierte die Bevölkerung eng mit der Polizei, weil sie die sinnentleerte (!) Randale seit langem leid ist. Diesmal wollten die Nachbarn durch ihre Anwesenheit auf der Straße die Gewalt verdrängen, was die Polizei nicht genug loben konnte [...].“ (SZ) Ganz Deutschland feiert die Menschen, die den Normalzustand schützen wollten und Bürgerwehr gespielt haben als Helden: die Polizei, die Tageszeitungen, das Fernsehen. Die Bildzeitung ist am begeistertsten auf den Zug aufgesprungen: „Dicker, die kriegen dich! Du kannst dich nicht mehr verstecken“, überschreiben sie ein Foto von einem Steinewerfer, nachdem jetzt der ganze Volkszorn fahnden wird.