22.12.2022 PDF

Die Reform von Hartz IV – das Bürgergeld (Text und Audio)

 

Jetzt hat es doch noch auf den letzten Metern geklappt. Bundestag und Bundesrat verabschieden das Gesetz zum Bürgergeld. Um diese „größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“1 zu würdigen, soll hier nochmal auf den Entstehungsprozess und die von der CDU angefachte Sozialneid-Debatte eingegangen werden.

Die Bundesregierung wollte einige Gesetzesänderungen auf den Weg bringen, die das Arbeitslosengeld II betreffen, hat diese als Paket im Bundestag eingebracht und am 10.11.2022 absegnen lassen. Der Bundesrat musste auch zustimmen und hier sorgte die CDU dafür, dass das Gesetzespaket namens Bürgergeld zunächst abgelehnt wurde. Ende November lag die Sache im Vermittlungsausschuss, wo sich mit Kompromissen an vielen Stellen schließlich geeinigt wurde, so dass das Bürgergeld zum 01.01.2023 kommen wird. Worum geht es?

Als erster Punkt enthält das Gesetzespaket eine Anhebung des bisherigen ALG II-Satzes um 53 €. Das Bürgergeld soll weiterhin die unterste Masche im sozialen Netz bleiben und den Empfänger*innen ein Existenzminimum gewähren. Vor dem Hintergrund der grassierenden Inflation 2022 will die Bundesregierung mit der Bürgergeld-Reform den Fortschreibungsmechanismus anpassen, sodass Preissteigerungen frühzeitiger in der Höhe des Bürgergeldes abgebildet werden. Aufgrund des bisherigen und des neuen ergänzenden Fortschreibungsmechanismus fällt der Anhebungsbetrag deutlich höher aus als in den vergangenen Jahren. Hier hat die CDU nichts einzuwenden.

Zweitens werden die Zuverdienstmöglichkeiten erweitert. Bislang ist es schon so, dass Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen, zusätzlich einer Lohnarbeit oder einer selbstständigen Arbeit nachgehen dürfen. Einen Teil des Geldes dürfen sie zusätzlich zur Grundsicherung behalten, einen Teil müssen sie quasi an den Staat abgeben, wenn er den Teil-Betrag von der Grundsicherung abzieht. Dieser spart sich so einige Kosten und die Spekulation der Politik ist, dass sich über diesen Wege eine Anspruchsberechtigte nach und nach aus dem ALG II und zukünftig aus dem Bürgergeld herausarbeitet. Für die Unternehmen hat dies die bequeme Konsequenz, dass sie die Leute billig und zeitlich variabel einsetzen können, ohne sich um die Frage zu scheren, ob die Lohnabhängige eigentlich von der Arbeit leben kann. Zwar gilt auch hier der Mindestlohn, aber von dem lässt sich selbst bei einer Vollzeitstelle keine Familie ernähren, bei Teilzeit auch kein Einzelhaushalt. Kurzum: Die Zuverdienstmöglichkeiten innerhalb des ALG II oder jetzt Bürgergeld sind ein bewährtes Mittel, um auf dem Arbeitsmarkt den eh schon vorhandenen umfangreichen Niedriglohnbereich zu stärken. Mit dem Bürgergeld sollen die absoluten und prozentualen Beträge, die eine Hartz IV-ler*in für sich zusätzlich zum Grundbetrag einstreichen darf, angehoben werden. Auch hier hat die CDU nicht viel einzuwenden.

Die Hauptkritik der CDU richtete sich auf einige Maßnahmen, die von den Regierungsparteien für Leute in den ersten beiden Jahren des Bezuges der Grundsicherung vorsah:

a) Schonung des Sondervermögens und Übernahme der vollen Wohnkosten

b) Die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs und Einführung eines Weiterbildungsgeldes

c) Abmilderung der Sanktionen.

Der ursprüngliche Gesetzesentwurf der Regierung und die Kritik der CDU der Reihe nach - für den Lesefluss versetzt sich der Text in die Zeit vor dem Kompromiss und benutzt das Präsens:

Schonung des Sondervermögens und Übernahme der vollen Wohnkosten

Bislang gilt, dass man als Bezieher*in von ALG II zunächst seine Ersparnisse und Vermögenswerte aufbrauchen muss: Sparguthaben, Sparbriefe, Wertpapiere, Fahrzeuge, Schmuck, Kapitallebensversicherungen, Haus- und Grundeigentum. Aber auch hier gibt es schon den Gesichtspunkt, dass man ein wenig Erspartes und vorhandene Vermögenswerte auch behalten darf. So gibt es den Grundfreibetrag von 150 € pro Lebensjahr. Auf Sparguthaben gibt es nochmal einen Freibetrag von 750 € für notwendige Anschaffungen. Kleines Wohneigentum, das man selbst bewohnt, „angemessene“ Möbel usw. und ein normales Auto kann man ebenfalls behalten.

Der Gedanke der Politik ist, dass diejenigen zumindest ein Stück weit honoriert werden sollen, die es geschafft haben, Reichtum anzuhäufen. Dieser Gedanke wird mit der Erhöhung des Schonvermögens im Bürgergeld weitergeführt. Liegt bislang der Höchstbetrag der Freibeträge so um die 10.000 €, so soll dieser mit dem Bürgergeld in der Anfangszeit deutlich angehoben werden:

„Mit dem Bürgergeld bekommen Menschen mehr Wertschätzung für ihre erbrachte Leistung, indem eine zweijährige Übergangszeit für Wohnen und Vermögen eingeführt wird. Mit dem Bürgergeld werden dadurch in den ersten zwei Jahren des Bezuges die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung übernommen. Und das Ersparte muss nicht aufgebraucht werden - sofern es sich nicht um erhebliches Vermögen handelt. Als erheblich gelten 60.000 Euro für die leistungsberechtigte Person und 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft. Bei einer vierköpfigen Familie wären dadurch zum Beispiel 150.000 Euro Erspartes geschützt. Die Freibeträge für die Bürgergeldbeziehenden werden angehoben. Und auch ab dem dritten Jahr im Leistungsbezug werden bei Wohneigentum größere Wohnflächen als bisher anerkannt und freigestellt. Es werden mehr Vermögensgegenstände als bisher vollständig freigestellt. So sind bei Selbstständigen künftig alle Versicherungsverträge, die der Alterssicherung dienen, bis zu einer gesetzlich bestimmbaren Höhe nicht als Vermögen zu berücksichtigen.“2

Die Politik möchte, wie zuvor auch schon, mit dem Freibetrag das ein bisschen mit Erfolg gekrönte Abrackern in der Konkurrenz wertschätzen. Gleichzeitig zeigt sich in dieser Reform zudem eine neue ökonomische Lageeinschätzung über die BRD: Die Bundesregierung rechnet damit, dass Menschen auf die Grundsicherung zurückgreifen müssen, die zuvor einiges zusammengespart haben, also Leute aus der „arbeitende[n] Mitte“.3 Da sind einmal die ca. 1,5 Millionen Selbstständigen, deren Zahl sich seit der Hartz IV-Reform fast verdoppelt hat.4 Das ist u.a. gemeint, wenn die Regierung sagt, dass „der Arbeitsmarkt heute ein völlig anderer [ist] als vor 20 Jahren“.5 Da gibt es aber auch lauter herkömmliche Arbeiter*innen, die in Corona-Zeit auf Kurzarbeit gesetzt wurden und dann ergänzend auch auf die Grundsicherung zurückgreifen mussten.

Insbesondere in der Corona-Zeit haben viele Selbstständige, die einiges zusammengespart hatten und vor allem mit Wertpapieren und privaten Rentenversicherungen auf ein Auskommen im Alter spekuliert haben, mit dem ALG II-System eine ungute Bekanntschaft gemacht. Wobei hier schon Corona-Sonderregeln eingeführt wurden, die für einen begrenzten Zeitraum ein höheres Schonvermögen und größeren Wohnraum zuließen. Mit dem Bürgergeld sollen diese Sonderregeln verstetigt und ausgebaut werden. Die Regierung rechnet fest damit, dass ein kräftiges Durchrütteln der Ökonomie, wie mit den Seuchenschutzmaßnahmen geschehen, kein einmaliges Ereignis bleibt. Und angesichts der Energiewende, der Inflation, der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, der anvisierten härteren Gangart gegenüber China und einer gar nicht unwahrscheinlichen erneuten Finanzkrise aufgrund der Bekämpfung der Inflation durch die Zentralbanken, kann man sagen: Wo sie Recht hat, hat sie Recht. In diesem Sinne will die Regierung für einen zweijährigen Zeitraum auch höhere Wohnkosten als bislang übernehmen und die Leute nicht gleich zwingen, ihre Wohnung aufzugeben und sich ein kleineres Loch zu suchen. Das ist die sogenannte Karenzzeit. Dass man von heut auf morgen als Lohnabhängige oder Selbständige kein Einkommen mehr hat, ist in der Marktwirtschaft prinzipiell enthalten. In den krisengeschüttelten letzten Jahren und mit den absehbaren geostrategischen Konfrontationen, die Deutschland sucht, trifft dieser rapide Abstieg einfach noch mehr Menschen. Mit dem Bürgergeld will die Regierung dies aushaltbar machen.

Diese Anhebung des Schonvermögens und die Übernahme von höheren Wohnkosten wird natürlich höhere Kosten für den Staat nach sich ziehen. Die Bundesregierung spekuliert darauf, dass diese Kosten abgemildert oder sogar ausgeglichen werden durch die Bürokratie, die sie sich dann zumindest in den ersten zwei Jahren spart. Statt lauter Angestellte der Arbeitsagentur für die Prüfung des Vermögens abzustellen, reduziert man die Anzahl, wenn man erst später sehr kleinlich wird und zwischendurch genügend viele Leute gar nicht mehr auf die Grundsicherung angewiesen sind.

Die CDU lehnt diese Ecke des Bürgergeldes strikt ab. Sie geht vor allem auf die Werteebene und hält der Regierung entgegen: Ihr untergrabt die Ehre, die der Leistung gebührt und das ist schlecht für das gesellschaftliche Zusammenleben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bereits die Redner*innen der Regierungskoalition haben lauter Armutsgestalten heran zitiert, um ihr Anliegen zu unterstreichen. Das kann die CDU schon lange und zitiert ebenfalls lauter Armutsgestalten heran, die mit ihrer Lohnarbeit nicht mehr oder sogar weniger als ALG II verdienen würden, wenn die neuen Kostenübernahmen für Wohnungen und das Schonvermögen in Kraft treten. In ihrem Namen tritt die CDU an und sagt: Das ist nicht gerecht. Jetzt gibt es viele Lohnarbeitende, die das genauso sehen und sie werden in der BILD-Zeitung umfänglich mit Vergleichsrechnungen versorgt. Vernünftigerweise müsste man diesen Leuten sagen: Euch geht es nicht besser, wenn andere nicht mehr bekommen. Euer Stolz darauf, dass ihr mit mageren Einkommen überleben müsst und dafür 40 Stunden und mehr für die Unternehmen antretet, die mit eurem knapp kalkulierten Lohn und der ordentlich abverlangten Arbeitsleistung ihr Ding machen, ist verkehrt. Und die Sorge der CDU, dass insgesamt in der Gesellschaft der Leistungsgedanke flöten geht wegen des Bürgergeldes, ist genau das: Die Sorge, dass ihr die beschissenen Zustände, in denen ihr mit der Lohnarbeit steckt, nicht mehr aushalten mögt.

Im Grunde muss man sagen, dass die CDU mit ihrer Agitation gegen das Bürgergeld freilich ebenfalls die vorhandenen und drohenden zerrütteten Zustände der deutschen Ökonomie im Auge hat. Da kommt einiges auf die Lohnabhängigen und Selbständigen zu und da braucht es für die CDU mehr eine Kriegsmoral, also den Willen zum Durchbeißen.6 Hier ist sie mit der AfD auf einer Linie, die ja schon seit ihrer Gründung meint, dass Deutschland am Abschiffen ist, weil der Wille zur Leistung und zum „(…) Risiko, einen Job zu verlieren, (...) vielleicht ihren Wohlstand zu verlieren, wenn sie selbstständig sind, (..) Risiko, ihre Gesundheit zu verlieren (...)“ dem guten deutschen Volk durch die Regierungspolitik abgewöhnt werden würde.7

Die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs und Einführung eines Weiterbildungsgeldes

„Das Bürgergeld unterstützt mehr als bisher auf dem Weg in langfristige, nachhaltige Beschäftigung statt auf schnelle Vermittlung zu setzen. Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten zwanzig Jahren gewandelt: Mittlerweile werden händeringend gut ausgebildete Arbeits- und Fachkräfte gesucht. Deswegen soll mit dem Bürgergeld auch die berufliche Weiterbildung stärker gefördert werden: Wer sich für eine Ausbildung oder Umschulung entscheidet, soll intensiver unterstützt werden. Der Grundsatz ,Ausbildung vor Aushilfsjobʼ gilt künftig noch stärker. Dazu zählt unter anderem, dass bei Bedarf ein Berufsabschluss auch in drei statt zwei Jahren nachgeholt werden kann und dass es leichter wird Grundkompetenzen (Lese-, Mathe-, -Fertigkeiten) zu erwerben. Für die Teilnahme an abschlussbezogenen Weiterbildungen wird ein zusätzliches monatliches Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro gezahlt. Und wer an Maßnahmen teilnimmt, die besonders dabei unterstützen, langfristig zurück in den Job zu finden, wird ein Bürgergeld-Bonus in Höhe von monatlich 75 Euro eingeführt.“8

Die Regierung sagt explizit, dass Hartz IV eine gute Sache war angesichts einer Massenarbeitslosigkeit im Jahr 2004. Das knapp kalkulierte ALG II mit seinen Sanktionselementen hat den Druck auf die Arbeitslosen erhöht, zugleich wurden lauter Instrumente für einen Niedriglohnsektor (Mini-Job und die Möglichkeit des Zuverdienst) geschaffen. Das hat tatsächlich dafür gesorgt, dass die Unternehmen mehr Leute angestellt haben, deren Arbeitsleistung sich in Gewinne für die Unternehmen umgewandelt hat. Das war gut für die Unternehmen und gut für den Staat (Steuern, Kreditfähigkeit, wirtschaftspolitische Erpressungsmacht gegenüber anderen Staaten). Für die ehemaligen Arbeitslosen dagegen hat sich die Sache definitiv nicht gelohnt. Sie hatten verglichen mit dem Zustand vor Hartz IV weniger und verglichen mit dem neuen Hartz IV-Satz kaum mehr Geld in der Tasche, mussten sich jetzt aber 40 Stunden im Betrieb herumkommandieren lassen. Im Lichte der brummenden Wirtschaft hat bereits die Merkel-Regierung den Verdacht gehabt, dass die Wirkungen von HartzIV etwas über das Ziel hinausschießen und hat den Mindestlohn eingeführt. Hinzu kommt heutzutage, dass die Unternehmen tatsächlich Probleme haben, zusätzliche Leute zu finden, die man dauerhaft einstellen kann. Nie zuvor in der Geschichte Deutschlands wurde soviel Arbeitsleistung für den Gewinnzweck mobilisiert und noch mehr Arbeit ist für den Profitzweck gewünscht. Das ist die wahnsinnige Konsequenz der kapitalistischen Wirtschaftsweise: Die Produktivkraft wird gesteigert, alles kann man mit weniger Zeit herstellen, aber zu mehr Freizeit führt das bei den Lohnabhängigen nie. Mehr Arbeiter*innen müssen her, nicht um die anderen zu entlasten, sondern um noch mehr wertschaffende Arbeit in die Welt zu setzen.

Und hier kommt die Regierung zu dem Schluss, dass da noch etwas aus der ALG II-Mannschaft herauszuholen ist. Viele von ihnen werden zwar in eine Arbeit vermittelt, tauchen dann aber früher oder später wieder beim Jobcenter auf, werden wieder gedrängt, den nächsten Job anzunehmen und werden dann wieder ins ALG II ausgespuckt. Hier soll das Bürgergeld eine bislang bestehende Möglichkeit in einen expliziten Auftrag an die Arbeitsvermittler*innen bewirken: Nehmt euch ein wenig Zeit auszuloten, ob die Arbeitslose nicht die eine oder andere Zusatzqualifikation erlangen kann, damit sie dann hoffentlich dauerhaft besser zu dem Bedarf der Unternehmen passt. Finanzielle Mittel werden dafür in geringem Umfang bereit gestellt.

Hier grätscht die CDU wieder rein und lehnt diese Maßnahmen ab. Zum einen hat sie eine andere Einschätzung der Arbeitslosigkeitsdynamik. Sie bestreitet nicht das Phänomen des Hin und Her von Job und ALG II, das viele Leute durchmachen. Sie meint aber, dass der Druck in Hinsicht auf eine schnelle und direkte Vermittlung notwendig ist, weil nur dies den Leuten „hilft“ die Arbeitstugenden nicht zu verlernen: Danke sagen, sich herumkommandieren lassen usw. Sie befürchtet schlicht, dass jemand, der sich erstmal für ein halbes Jahr oder ein Jahr Weiterbildung entscheidet, dann doch dauerhaft in der Arbeitslosigkeit hocken bleibt.

Sowohl die Regierung als auch die CDU gehen dabei von einer gemeinsamen Unterstellung aus: Unternehmen sind es überwiegend gewöhnt, dass sie passende Arbeitskräfte vorfinden und so soll es auch bleiben. Abgesehen von einer Ausbildung eines jungen Menschen, kommen die Unternehmen nicht auf die Idee, irgendjemand nochmal drei Jahre auszubilden. Das passt schlicht nicht in ihre Profitkalkulation. Auf der anderen Seite sieht der Arbeitsplatz wegen der Profitkalkulation hohe Leistungs-, Pünktlichkeits- und Flexibilitätsanfoderungen vor. Deswegen findet in den Personalabteilungen eine Vorauswahl statt. Leute, die länger nicht gearbeitet haben, kommen gar nicht in die Verlegenheit, in ein Vorstellungsgespräch verwickelt zu werden, in dem geprüft wird, ob man zu den schon fest stehenden Anforderungen des Unternehmens passt.

Zurück zur CDU: Weiter hält sie den Druck des ALG II anhaltend für ein Erfolgsmodell. Gerade jetzt, wo die Ökonomie so durcheinander gerüttelt wird, sollte man darauf nicht verzichten, sonst drohe wieder Ruck-Zuck eine Massenarbeitslosigkeit. Diese arbeitsmarktpolitischen Überlegungen verknüpft sie dann wieder mit der Werte-Debatte, die ihr schon bei der Schonung des Vermögens so am Herzen lag. Hier stricke die Regierung nicht an einer weiteren Masche des Sozialstaates, sondern an einer weiteren Masche für die Hängematte. Wieder wird im Namen der hart arbeitenden Leute gegen dieses angebliche Ruhekissen gehetzt. Und wieder muss man den Leuten sagen: Ihr werdet nicht weniger arbeiten, nicht weniger eure Gesundheit aufs Spiel setzen, wenn die CDU dafür sorgt, dass andere Leute nicht die Gelegenheit bekommen, mal einen Computerkurs zu machen – um dann dauerhaft hart zu arbeiten und die Gesundheit aufs Spiel zu setzen.

Neuregelung des Sanktionsmechanismus

Das ALG II beinhaltet Disziplinierungsmöglichkeiten: Bis 2019 war es so, dass jemanden, der bei einem Termin oder einer auferlegten Maßnahme nicht aufgetaucht ist, nicht genug Bewerbungen geschrieben oder sich bei einem Bewerbungsgespräch in den Augen der Arbeitsagentur nicht willig aufgeführt hat, 30% des ALG II (die Wohnungs- und Heizkosten davon ausgeschlossen) für 3 Monate gekürzt wurde. Bei einer Wiederholung wurden 60% gekürzt. Dann ist das Bundesverfassungsgericht dazwischen gegangen und hat den Gesetzgeber darauf aufmerksam gemacht, dass die Gewährung eines Existenzminimums Verfassungsrang hat.9 Da das Existenzminimum des ALG II tatsächlich sehr kleinlich zusammengerechnet ist, bedeutet eine Leistungskürzung eben, dass ein Mensch in dieser Zeit vom ALG II überhaupt nicht leben kann. Wie es bei Verfassungsgrundsätzen so ist, bedeuten diese nie, dass da gar nichts geht. Sanktionen sind zulässig, sagt das Gericht, dürfen aber nicht leichtfertig, sondern nur in stark reflektierter Art und Weise auferlegt werden. Die 60%-Kürzung ist gleich kassiert worden. Bei den 30% hat das Gericht den Auftrag an die Politik gegeben, hier gute und vorsichtige Gründe anzugeben.

Das lässt gesetzgeberischen Spielraum und die Regierung hat sich folgendes im Bürgergeld überlegt: Statt der bisherigen Eingliederungsvereinbarung gibt es jetzt einen Kooperationsplan. Ob das mehr als eine Namensänderung ist, wird sich zeigen. Auf jeden Fall sollen die Arbeitslose und die Arbeitsvermittlerin eine Vereinbarung abschließen, in der drin steht, wo die Arbeitslose sich wie oft bewerben wird und/oder welche Weiterbildungsmaßnahmen anstehen. Wenn dies geschehen ist, dann gibt es eine sechsmonatige „Vertrauenszeit“, in der die bisherige Sanktionspraxis nur eingeschränkt gelten soll, nämlich erst bei wiederholtem Nicht-Erscheinen bei einem Termin und dann auch erstmal nur 10%, statt wie bisher 30%, an die sich schrittweise angenähert wird. Job-Angebote kann man dagegen in dieser Zeit ausschlagen, wenn man sich auf eine Fortbildung konzentrieren will. Sollte warum auch immer ein Kooperationsplan nicht zu Stande kommen, gibt es gleich Sanktionen. Ansonsten soll gelten:

„Leistungsminderungen wegen wiederholter Pflichtverletzungen und Meldeversäumnisse betragen höchstens 30 Prozent des maßgebenden monatlichen Regelbedarfs. Kosten der Unterkunft und Heizung werden nicht gemindert. Eine Minderung wegen Pflichtverletzungen ist außerhalb der Vertrauenszeit beim ersten Verstoß auf 20 (statt zuvor 30) Prozent begrenzt. Eine Leistungsminderung erfolgt nicht, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Leistungsminderungen sind aufzuheben, wenn die Leistungsberechtigten die Mitwirkungspflichten erfüllen oder nachträglich glaubhaft erklären, ihren Pflichten nachzukommen.“10

Wie gesagt, hat das Verfassungsgericht Spielraum gegeben und die CDU kritisiert die Umsetzung, weil der Spielraum für frühe, harte und permanente Sanktionsdrohungen in ihren Augen nicht ausgereizt wurde. Wieder geht es ihr um den Leistungsgedanken, den sie in der Sittlichkeit der Bevölkerung verankert sehen will und die pure Möglichkeit, dass jemand nach Abschluss des Kooperationsplanes auch mal einen Termin sausen lässt, ohne Strafe zu befürchten, geht für sie gar nicht.

Entfristung des Sozialen Arbeitsmarktes

„Durch die Entfristung des Sozialen Arbeitsmarktes wird die Förderung,Teilhabe am Arbeitsmarktʼ den Jobcentern nun dauerhaft zur Verfügung stehen. Sie ermöglicht besonders arbeitsmarktfernen Menschen soziale Teilhabe durch öffentlich geförderte, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.“11

Bislang gab es für Langzeitarbeitslose das „Angebot“ und den „Druck“ Jobs anzunehmen, für die die Unternehmen keinen oder einen geringen Lohn zahlen. Den Rest stockte das ALG II auf. Dieser Kombi-Lohn, war immer für ein paar Jahre befristet, wurde dann wieder befristet verlängert und soll jetzt mit dem Bürgergeld einfach dauerhaft möglich sein.

Hier sind sich die Regierungsparteien und die CDU einig, dass das gut ist. Dass aus Langzeitarbeitslosen keine Fachkräfte werden können, das sehen alle so und dieser Bodensatz der kapitalistischen Ökonomie soll dann den Unternehmen als kostenlose oder kostengünstige Arbeitskraftreserve für einfache Tätigkeiten weiterhin zur Verfügung stehen. Davon haben die Leute geldmäßig kaum etwas, dafür die Wirtschaft und im weitesten Sinne dann auch der Staat, der trotz Geldaufwendungen auf eine florierende ökonomische Machtbasis setzen kann.

Der Kompromiss und ein Fazit: Das Bürgergeld kommt

Der Kapitalismus braucht Arbeitskräfte und spuckt sie immer wieder aus. Die Politik kümmert sich als Sozialstaat darum, dass das geht. Obwohl die Unternehmen das Urteil „unbrauchbar“ ausgesprochen haben, sollen die Lohnabhängigen nicht vor dem Nichts stehen, sondern als Arbeitskraftreserve brauchbar bleiben.

Der große Wurf von Hartz IV mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war eine eigentümliche Wendung: Zuvor waren die untersten Maschen des sozialen Netzes fein säuberlich getrennt: Als Arbeitslosenhilfebezieher galt man prinzipiell als wieder zukünftig arbeitsfähig, man wurde auch nicht sonderlich drangsaliert – abgesehen davon, dass das Geld knapp war. Als Sozialhilfeempfänger war man abgeschriebene unbrauchbare Last, die der Staat einfach billigst durchgefüttert hat.

Hartz IV hatte dann das doppelte Urteil: Alle, die keinen Anspruch auf die Versicherungsleistung ALG I haben,sollen als Arbeitslose für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und entsprechend betreut werden. Und: Alle sind irgendwie als „normale“ Lohnabhängige abgeschrieben und müssen mit Drangsalierung in einen neu geschaffenen Niedriglohnsektor gepresst werden.

Das war für den Staat und dessen Unternehmerschaft sehr erfolgreich, für die Betroffenen eine Verschlechterung der Lebenslage. 20 Jahre später hat es die Politik nicht nur mir einer konjunkturellen Schwäche zu tun, sondern mit anhaltenden Eruptionen in der weltweiten und deutschen Ökonomie. Grund genug das Arbeitslosengeld II anzupassen. Nur: Während die Regierung meint mit neuen Ausbildungsmöglichkeiten und anderen Grenzen für das Schonvermögen die Härten in der untersten Abteilung der kapitalistischen Ökonomie durch etwas Milderung aushaltbarer für die betroffenen Menschen machen zu müssen, meint die CDU, dass genau dies nicht zu den harten Zeiten passt, in denen sowohl die Regierung, als auch die CDU Deutschland heute und in Zukunft sieht. Durchbeißen braucht es als Tugend und dafür sollte man die Grundsicherungsbedürftigen so hart ran nehmen, wie es geht.

Schließlich werden sich aber die relevanten Parteien einig, so dass das Bürgergeld vom Bundestag und Bundesrat mit einigen Modifikationen beschlossen wird:

Der Grundbetrag des bisherigen ALG 2 wird angehoben und die Fortschreibungsmechanismen geändert.

Der Vermittlungsvorrang fällt, die Weiterbildungsangebote bleiben.

Die erweiterten Zuverdienstmöglichkeiten bleiben.

Das Schonvermögen wird angehoben, aber nicht so stark. Es wird nicht bei 60.000 €, sondern bei 40.000 € liegen, zusätzliche Beträge für Mitglieder der Bedafsgemeinschaft liegen nicht bei 30.000 €, sondern bei 15.000 €.

Die Karenzzeit, in der diese erhöhten Schonvermögen gelten und in der die „Angemessenheit“ der Wohnung nicht geprüft wird, wird zwar eingeführt, aber begrenzt auf ein Jahr statt wie von der Regierung angedacht, für zwei Jahre.

Als großen Erfolg feiert die Union, dass die Vertrauenszeit nicht eingeführt wird. Für alle möglichen Fehlverhalten können sogleich Sanktionen ausgesprochen werden. Verglichen mit Hartz IV werden die Sanktionen aber gestaffelt (10%, 20% und 30%) und insofern am Anfang abgemildert.

So bleibt es dabei:

„Der Staat hilft nicht den Menschen in ihrem Interesse an einer gesicherten materiellen Bedürfnisbefriedigung mit Entwicklungsperspektive, sondern er hilft mittellosen Menschen, eine Existenz als Lohnarbeiter*in zu führen.“ (Die Misere hat System: Kapitalismus, S. 214)12

 

1Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages 10.11.2022, S. 7471.

3Jens Peick (SPD), Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages 10.11.2022, S. 7491.

5Hubertus Heil (SPD), Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages 10.11.2022, S. 7471.

6Die SPD geht auf die fehlende Lücke von Löhnen und Bürgergeld so ein: Sie tue ja einiges dafür, dass die Niedriglöhne steigen, z.B: mit dem Mindestlohn von 12 € und der Beförderung von Tarifbindung. So argumentiert sie völlig an dem vorbei, worum es der CDU geht. Diese will nicht den Niedriglohnbereich abschaffen – und die SPD ja auch nicht -, sondern eine bestimmte Sittlichkeit in der Bevölkerung gefestigt sehen.

7Norbert Kleinwächter (AfD), Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages 10.11.2022, S. 7476.

10https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Grundsicherung-Arbeitslosengeld-II/Buergergeld/Fragen-und-Antworten-zum-Buergergeld/faq-buergergeld.html; eingesehen am 17.11.2022. Dort sind auch weitere kleine Entschärfungen des Sanktionsregimes erwähnt, die hier nicht behandelt werden.